»Aber ich, ich meine doch … Ich möchte einfach wissen, was Ihnen an meiner Arbeit nicht gefallen hat! Könnten wir nicht …«
»Sehen Sie, Sie haben eine bestimmte Anschauung vom Leben. Ich habe eine andere. Das ist alles.«
»Aber, könnten wir nicht …«
»Hören Sie mal, Herr Schmidt!« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Nicht hier und nicht jetzt, natürlich«, sagte er rasch, »Sie haben eine Menge zu tun, ist mir klar. Aber vielleicht mal abends. Oder… Sie gehen doch sicher mittags essen …«
»Tut mir leid, Herr Schmidt … aber das … prinzipiell nicht!«
»Und warum?«
»Ein persönlicher Kontakt mit einem Autor würde, fürchte ich, meiner Objektivität schaden. Das müssen Sie verstehen!«
»Trotzdem, ich …«
»Und außerdem«, unterbrach sie ihn, »in Ihrem eigenen Interesse! Es wäre schlecht, wenn Herr Neuhausen den Eindruck bekäme, Sie wären ein besonderer Protegé von mir.« Sie reichte ihm die Hand und lächelte ihm zu. »Also, machen Sie sich nichts draus, Herr Schmidt. Ich werde Ihr Manuskript bestimmt mit ganz besonderem Interesse lesen, und Sie werden so bald wie möglich von mir Bescheid bekommen!«
»Danke«, sagte er. Er hatte die Pfeife weglegen müssen, um ihr die Hand zu reichen. Jetzt nahm er sie wieder auf und wandte sich zum Gehen.
»Herr Schmidt!« rief Verena ihm plötzlich nach.
Er drehte sich halb um.
»Entschuldigen Sie, bitte … aber … wie alt sind Sie eigentlich?« fragte sie, ohne recht zu wissen, weshalb.
»Warum interessiert Sie das?« Er hob seine Augenbrauen.
»Nur so …«
»Sechsundzwanzig«, sagte er kurz und verließ endgültig den Raum.
Sechsundzwanzig! dachte Verena. Verflucht noch mal, ich hätte ihn netter behandeln sollen! Aber daran ist nur Neuhausen, dieses Ekel, schuld mit seinem albernen Getue, obwohl ich daran mittlerweile schon gewöhnt sein könnte, aber es reißt mir immer wieder an den Nerven.
Sechsundzwanzig! Trotzdem … der Roman ist gräßlich. Immerhin, er ist ja auch noch hundejung, ein halbes Kind noch. Er wird mich für ein Scheusal halten, na wenn schon, ich kann es nicht ändern.
Der Regen hämmerte gegen die Fensterscheiben.
Ina Bongard war an diesem Morgen mit einem frohen Gefühl aufgewacht. Noch ehe sie klar denken konnte, noch ehe das Trommeln des Regens in ihr Bewußtsein drang, spürte sie, daß etwas Neues und Schönes begonnen hatte. Dann wachte sie vollends auf und wußte es … Heinrich!
Sie, die sonst nur ungern und unlustig aufzustehen pflegte, war heute mit einem Satz aus dem Bett gewesen, noch vor Verena. Sie hatte sich mit äußerster Sorgfalt angezogen, hatte ein Kleid gewählt, das ihr bisher noch zu schade für den Laden erschienen war. Sie fühlte den inneren Drang, während des Ankleidens zu singen, unterließ es nur mit Mühe, weil sie Verenas Spott und Argwohn fürchtete.
Von dem Augenblick an, da sie die Ladentür aufgeschlossen hatte, erwartete sie, Heinrich eintreten zu sehen. Er war zwar sonst meist erst um die Mittagszeit gekommen, aber das hatte ja nichts zu sagen, heute war doch ein besonderer Tag, heute würde er sich bestimmt genauso wie sie nach einer Begegnung mit ihr sehnen.
Aber die Stunden verrannen, ohne daß Heinrich erschienen wäre. Inas Lächeln, das am frühen Morgen strahlend und voll glücklicher Erwartung gewesen war, begann sich zu verzerren, begann einzufrieren.
Alle paar Minuten blickte sie auf ihre Armbanduhr, gab ihren Kunden zerstreut und abwesend Bescheid, starrte, während sie bediente, voller Spannung auf die Tür, und jedesmal, wenn diese sich öffnete, gab es ihr einen kleinen Stich ins Herz – wieder nicht Heinrich!
Es wurde ein Uhr und damit Zeit, den Laden über Mittag zu schließen, doch während Ina sonst immer voll Ungeduld auf diesen Moment zu warten pflegte, zögerte sie ihn heute so lange wie möglich hinaus. Es konnte ja sein, daß er sich verspätet hatte …
Ehe sie endgültig abschloß, trat sie auf die Straße hinaus und blickte nach allen Seiten. Viele Wagen fuhren vorüber, kamen von rechts und kamen von links, einmal glaubte sie sogar, Heinrichs Auto erblickt zu haben, aber es fuhr vorüber, und Heinrich saß nicht am Steuer.
Sie ging nach oben, aß ein paar belegte Brote, machte sich einen starken Kaffee. Der Kaffee tat ihr gut, neue Hoffnung erwachte in ihr. Jetzt konnte sie fast über sich lachen. Wie man nur so dumm sein konnte!
Mehr als einmal war Heinrich doch erst am frühen Nachmittag erschienen, ja, es war eigentlich die Regel, und nur um sie zu sehen, konnte er doch schließlich nicht seinen ganzen Tagesplan über den Haufen werfen. War es denn wichtig, ob er eine Stunde früher oder später kam? Kommen würde er bestimmt, und das war doch die Hauptsache.
Heinrich kam nicht. Es wurde drei, es wurde vier Uhr, die Ladentür ging auf und zu, die Leihbücherei war voller Menschen, aber Heinrich war nicht unter ihnen.
Inas erwartungsvolle Spannung steigerte sich fast zur Hysterie. Ihr war, als müßte sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen, nur um diesem unerträglichen Zustand ein Ende zu machen. Plötzlich fiel ihr ein, daß er vielleicht anrufen würde. Er hatte noch nie angerufen, aber vielleicht heute. War das Telefon umgeschaltet? Sie ließ die Kunden allein im Laden und rannte die Treppe hinauf.
Es war alles in Ordnung. Wenn jemand anrief, mußte das Telefon im Laden klingeln. Natürlich, wie konnte es anders sein, sie hatte das noch nie vergessen.
Sie blickte im Vorübergehen in den Spiegel und stellte fest, daß sie gehetzt und gequält aussah. So durfte sie Heinrich nicht begegnen! Sie zwang sich zur Ruhe, zu einem Lächeln. Sie hätte weinen mögen.
Als das Telefon klingelte – wirklich und wahrhaftig klingelte – schoß Farbe in ihre Wangen. Das mußte Heinrich sein, anders war es ja gar nicht möglich. Er rief an, weil er nicht kommen konnte, vielleicht rief er sogar an, um sich mit ihr zu verabreden.
Sie nahm den Hörer nicht gleich ab, bediente weiter, versuchte sich zu sammeln.
Erst als es das drittemal klingelte, hob sie ab und sagte mit bewußt tiefer Stimme: »Hallo!« in den Apparat.
»Hallo, Ina! Entschuldige bitte, ich habe doch wahrhaftig ganz vergessen, dir zu sagen …« Es war Verena.
Ina ließ den Hörer sinken, ihr Mund verzog sich. Verenas Stimme quäkte unverständlich aus dem Telefon.
Ina sah die Blicke der Kunden auf sich gerichtet und riß sich zusammen. »Ja, Verena …«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Bist du mir böse?«
»Nein, natürlich nicht …«
»Ich komme so früh wie möglich nach Hause!«
Plötzlich war Ina bei der Sache. »Wieso? Wo gehst du hin?«
»Aber das habe ich dir doch gerade eben lang und breit erklärt!«
»Ich habe kein Wort verstanden!«
»Ich gehe zu Bri-git-te! Hörst du? Brigitte hatte mich gestern …«
»Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«
»Weil ich es vergessen habe!«
»Du wolltest es mir nicht sagen!«
»Nun hör mal, Ina … jetzt spinnst du wirklich!«
»Ach, es ist dir ja ganz egal, was ich denke …«
»Ina, bitte!«
»Warum hat mich Brigitte nicht auch eingeladen?«
»Aber, Ina! Du kannst Brigitte doch nicht leiden!«
»Das ist kein Grund. Wenn du es ihr nicht erzählt hast …« Ein kleines Schluchzen stieg in Inas Kehle, sie schwieg, weil sie nicht gut hier im Laden vor allen Leuten in Tränen ausbrechen konnte.
Auch am anderen Ende der Leitung blieb es still. Dann sagte Verena tastend: »Hör mal, Ina … hast du vielleicht schlechte Nachrichten … von deinem Heinrich?«
Ina warf den Hörer auf die Gabel und putzte sich heftig die Nase.
Die Kunden blätterten mit scheinbar größtem Interesse in den ausgelegten Büchern.
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