Verena freute sich immer wieder aufs neue, wenn sie dieses Zimmer betrat, das in nichts an die hohen unfreundlichen Räume erinnerte, in denen sie ihre Tätigkeit als Lektorin für die literarische Agentur Albert Neuhausen begonnen hatte.
Sie spannte ihren Regenschirm in dem kleinen Waschraum auf, hängte ihren Trenchcoat fort, schlüpfte aus ihren völlig durchnäßten Schuhen und Strümpfen, wusch sich die Beine unter dem warmen Wasser und rieb sie mit dem Handtuch ab. Nachdem sie ihre Strümpfe zum Trocknen aufgehängt hatte, zog sie ein Paar Sandalen an, die sie für solche Zwecke im Büro hatte, und stellte die elektrische Heizsonne dicht neben ihren Schreibtisch. Sie starrte unlustig auf den Stapel neu eingegangener Manuskripte, der auf der linken Ecke des Schreibtisches auf sie wartete.
Das Rauschen des Regens vor dem Fenster wirkte einschläfernd wie ein Wiegenlied.
Verena gab sich einen Ruck und nahm den Telefonhörer auf. »Guten Morgen, Frau Heinzelmann«, sagte sie, »würden Sie wohl so lieb sein und uns eine Tasse Kaffee machen? Ja, bitte, ich erwarte Sie.«
Verena legte den Hörer auf, seufzte leicht und zog die Manuskripte zu sich heran. Es war nicht ganz einfach, Frau Heinzelmann gegenüber den richtigen Ton zu treffen. Sie war eine zuverlässige Kraft, intelligent und tüchtig, und wenn sich die beiden Frauen in einer privaten Sphäre begegnet wären, hätten sie sich ganz gewiß großartig verstanden. So aber hatte sich die Tatsache in das Bewußtsein beider eingegraben, daß Frau Heinzelmann zehn Jahre älter war als Verena und nicht halb soviel verdiente, und diese Tatsache stand wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen.
Verena zog die Begleitbriefe aus den Manuskripten, las sie durch und faltete sie zusammen. Sie schaute in die einzelnen Manuskripte hinein, schrieb die Namen bestimmter Lektoren auf kleine Zettel und heftete diese an die Umschläge.
Frau Heinzelmann klopfte an und balancierte ein Tablett mit einer Tasse Kaffee, einer Dose Zucker und einem Kännchen Milch auf den Schreibtisch.
»Schönen Dank, Frau Heinzelmann«, sagte Verena, »scheußliches Wetter, was?«
»Ich sag’s ja, man muß aufpassen, daß man sich keinen Schnupfen holt!« Frau Heinzelmann warf einen Blick auf die Manuskripte.
»Ja, die können Sie mitnehmen«, sagte Verena. Frau Heinzelmann kannte ihre Arbeit, es wäre ganz unnötig gewesen, ihr zu erklären, daß der Empfang den Autoren bestätigt werden mußte, daß die einzelnen Manuskripte an die Lektoren verteilt werden sollten, die außer Haus für die Agentur arbeiteten.
Frau Heinzelmann nahm Briefe und Manuskripte unter den Arm und wollte das Zimmer verlassen.
»Sie haben sich doch auch Kaffee gemacht?« fragte Verena.
»Ach nein, lieber nicht. Heute nacht hatte ich es mal wieder mit dem Herzen!«
»Das tut mir leid.«
»Ich sag’s ja … über vierzig taugt der Mensch nichts mehr, da können sie so viel reden und schreiben wie sie wollen. Das richtige ist es nicht mehr!«
»Unsinn!« rief Verena und lachte. »Ich bin sicher, ich komme dann erst richtig in Form!«
»Na, Sie werden’s noch erleben!« orakelte Frau Heinzelmann düster.
»Wir können dann gleich anfangen!« rief Verena ihr nach, als sie schon die Türklinke in der Hand hatte.
Der Kaffee war gut, heiß und stark. Verena ärgerte sich, daß sie trotzdem wieder gähnen mußte. Wie konnte sie nur so müde sein! War es gestern abend denn so spät geworden?
Sie stand auf, holte einen Stoß Manuskripte aus dem Regal und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Jedes dieser Manuskripte war von den Lektoren gelesen worden, in jedem lagen kurze Gutachten, in jedem ein Zettel von Verenas Hand mit dem kleinen Wort »Zurück«.
Obwohl Verena durch ihre jahrelange Tätigkeit als Lektorin hätte abgebrüht sein müssen, berührte sie der Anblick der zur Rücksendung bestimmten Manuskripte immer noch ausgesprochen unangenehm. Sie wußte, das war eine dumme Sentimentalität von ihr, über die Neuhausen mit Recht gespottet hätte, aber sie empfand so stark, wieviel Arbeit in jedem dieser Romane, selbst dem schlechtesten und dilettantischsten steckte, mit wieviel Hoffnungen er in die Welt geschickt worden war … Hoffnungen, die sie nun zerstören mußte.
Aber es half nichts. Kein Mensch konnte ihr einen Vorwurf machen. Sie gehörte nicht zu jenen Lektoren, die drei Seiten am Anfang, eine in der Mitte und dann noch – vielleicht – den Schluß überfliegen; aus Albert Neuhausens Agentur ging kein Manuskript zurück, das nicht gründlich und gewissenhaft geprüft worden war. Nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen; sie hätte sich ihr Gehalt Wesentlich einfacher verdienen können und wäre dennoch nicht zu tadeln gewesen.
Frau Heinzelmann kam herein, mit Stenoblock und gespitztem Bleistift. Sie setzte sich an ihr Tischchen und schaute Verena erwartungsvoll an.
»Na, dann los«, sagte Verena und stürzte sich, gleichsam mit geschlossenen Augen, in die Arbeit.
Sie hatten noch nicht die Hälfte der Post erledigt, als sich die Tür öffnete – es war kurz nach zehn – und Albert Neuhausen seinen viereckigen, blanken Schädel hereinstreckte.
»Hallo, Verenchen«, sagte er. Er trug seine dunkle Brille, ein Zeichen, daß er Kopfschmerzen hatte und daß heute noch weniger als sonst mit ihm zu spaßen war.
»Hallo, Chef«, antwortete Verena.
»Morgen, Heinzelmännchen«, sagte Neuhausen und zeigte die Zähne mit einer Freundlichkeit, die benso falsch war wie sein Gebiß.
»Guten Morgen, Herr Neuhausen!« echote Frau Heinzelmann beflissen.
»Ich sehe, ihr seid fleißig«, stellte er in einem Ton fest, als ob es ihn wundere, in seinem Betrieb mal einen anderen Zustand als Müßiggang und Faulenzerei zu erleben.
Die beiden sahen ihn schweigend an, zur Verteidigung bereit; denn irgendein Angriff würde jetzt kommen, das war sicher.
Neuhausen trat ins Zimmer, er war noch im Mantel, der vor Nässe glänzte. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Frau van den Berg … Nein, bleiben Sie ruhig, Heinzelmännchen, ich werd’s kurz machen.«
Er ging im Zimmer auf und ab und rieb sich die Hände, die in hellen Schweinslederhandschuhen steckten.
Verena sah in an.
»Sie haben mir da gestern ein Manuskript hereinreichen lassen … bitte, unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre … aber ich hatte nach dem beiliegenden Gutachten den Eindruck, daß Sie dieses Manuskript für druckreif halten …« Er machte eine Pause.
»Ich halte alle Manuskripte für druckreif, die ich Ihnen vorlege«, sagte Verena und war froh, daß ihre Stimme klar und fest klang.
Er blieb stehen. »Ist das Ihr Ernst?«
Sie sagte nichts und sah ihre Hände an. Ihre langen Nägel waren mattrot lackiert. Eine hübsche Farbe, dachte sie, entschlossen, sich nicht reizen zu lassen.
»Nun, ich dachte, Sie hätten einen Witz mit mir machen wollen«, fuhr Neuhausen fort, »es wäre zwar ein schlechter Witz gewesen, aber immerhin …«
Er machte wieder eine Pause, aber Verena schwieg beharrlich weiter.
»Sie wagen es, mir ein Manuskript unter die Nase zu legen, das in der Zeit vor der Währungsreform spielt?« brüllte er plötzlich los.
Verena sah nicht hoch. Sie wußte, daß sein kahler Schädel jetzt rot anlief.
»Nach all den Jahren, in denen ich mir Mühe gegeben habe, Sie hier einzuarbeiten! Es ist doch wahrhaftig zum …« Er schlug sich klatschend vor die Stirn und rannte im Zimmer auf und ab.
Dann blieb er unvermittelt stehen und sagte mit mühsam beherrschter Stimme: »Bitte, vielleicht sind Sie so gut mir zu erklären, was Sie sich dabei gedacht haben. Frau van den Berg, bitte, erklären Sie es mir, ich bin ein alter Mann, es ist ja gut möglich, daß ich nichts mehr von meinem Beruf verstehe …« Seine Stimme erstarb.
»Ich habe in meinem Gutachten ausdrücklich betont, daß es wahrscheinlich eine gewisse Schwierigkeit beim Verkauf geben wird, weil …«
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