Kurz nach halb acht war sie zurück an den beiden Telefonstelen vor der Hofer Stadtpost. Den Berg herauf war sie trotz der morgendlichen Kälte ins Schwitzen gekommen. Neuer Schweiß klebte auf altem Schweiß, sie hatte seit ihrem Krankenhausaufenthalt nicht mehr geduscht. Wenn das hier erledigt war, würde sie sich erst einmal einen Badesee suchen.
Sie stellte ihr Fahrrad auf den Ständer und lüftete wedelnd ihr T-Shirt.
Na denn, bringen wir es hinter uns! Der silbergraue Abfallbehälter hatte einen orangefarbenen, verschrammten Deckel. Der Spalt zwischen Behälterrand und Deckel war so schmal, dass ihr Arm gerade hineinpasste. Sie hoffte, dass der zerknüllte Zettel mit den Telefonnummern obenauf lag. Aber das Erste, was sie mit den Fingerspitzen ertastete, war etwas Glitschiges, Kaltes – eine Bananenschale. Igitt. Also tiefer. Eine zusammengefaltete Zeitung. Verschrumpelte Papiertaschentücher. Feste runde Kaugummiklumpen. Zigarettenkippen. Und ein ... oh Mann, pfui Teufel, auf keinen Fall wollte sie wissen, was das eigentlich war. Inzwischen steckte Nelli bis zum Schultergelenk in dem Abfallbehälter. Sie wühlte tiefer, fuhrwerkte mit der Hand über den krümeligen Boden des Behälters, suchte alle vier Innenkanten und Ecken ab, durchmischte den Inhalt und ließ die absonderlichsten Wohlstandsreste tastend durch die Finger gleiten. Da war was, fühlte sich an wie eine kleine Papierkugel.
Nelli zog den Arm aus dem Müll und betrachtete ihre Beute. Es war ihr Zettel, dem Himmel sei Dank. Sie faltete ihn auseinander. Ihre rechte Hand roch nach kalter Zigarettenasche und fauligem Obst. Egal jetzt. Erleichtert stellte sie fest, dass die Zahlen und der Name trotz ihres wilden Durchstreichens noch zu lesen waren.
Herolder. Eine Klatschreporterin. Klischees drängten sich auf. Nelli stellte sich vor, wie es wohl sein würde, von einer solchen Frau bis ins intimste Detail ausgefragt zu werden und dann das eigene Leben übertrieben, verdreht, ausgeschmückt und verkitscht in einem Klatschartikel zusammengebacken zu bekommen zu einem übersüßen Törtchen mit Zuckerguss und Gelier-Kirsche – aber wusste zugleich, dass es ganz anders sein würde. Es war immer anders, als man es sich vorstellte. Und deshalb war auch Andi ganz sicher nicht mehr am Leben, und ganz sicher ging vom Verschwinden seiner Leiche keine Gefahr aus. Alles war ganz anders. Hoffentlich ...
Nelli fischte ein Papiertaschentuch aus einer Seitentasche, reinigte so gut es ging ihre Abfallhand, warf das Taschentuch in den Müll, schob ihr Fahrrad zu einer Bank unweit der Telefonstelen, stellte es ab, setzte sich hin und sah dem morgendlichen Treiben an dieser zentralen Kreuzung ihrer Heimatstadt zu. Jetzt wäre ein Kaffee recht gewesen. Ein Marmeladenbrötchen. Die Morgenzeitung. Die vielen Leute, die an ihr vorbeifuhren, vorbeieilten oder schlenderten hatten mehr oder weniger alle die Zeit nach dem Aufstehen so verbracht. Gelangweilt, vielleicht gestresst und genervt, problembeladen, aber im Warmen, in Sicherheit, frisch geduscht und sauber gekleidet. Nelli sehnte sich ihre einstige Geborgenheit so derart zurück, dass es weh tat. Und sei es nur für die kleinen Freuden eines gemütlichen Fernsehabends und den bescheidenen Luxus einer Kaffeemaschine – sie würde dieser Klatschreporterin alles erzählen, wirklich alles, wenn es nötig war, und dann Augen und Ohren fest verschließen, wenn es an die Öffentlichkeit kam. Hauptsache, sie würde in ihr schmerzlich vermisstes altes Leben zurückkehren können, zumindest ansatzweise. Hauptsache weg von der Straße.
Als die öffentliche Uhr an der Postplatz-Kreuzung von 8.59 Uhr auf 9.00 Uhr rückte, stand Nelli auf, öffnete den Reißverschluss ihres Bauchbeutels, schüttete ihre allerletzten Münzen in die rechte Hand und ging zur linken der beiden Telefonstelen.
Beim ersten Versuch, die lange Zahlreihe einzugeben, verwählte sie sich. Mit zitternder Hand hängte sie den Hörer ein.
»Verdammt, das ist kein Vorstellungsgespräch, nimm dich zusammen. Du bist keine Bittstellerin, sondern hast was zu verkaufen, das diese Frau unbedingt will. Also los!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Es war einfach zu wichtig, zu wichtig. Nein, war es nicht, es gab jede Menge Klatschblätter, wenn es mit der nichts wurde, würde sie eben ...
Würde sie eben nicht! Nelli brach der Schweiß aus. Wie sollte sie denn mit den Zeitungsleuten verhandeln, wenn sie nicht mal Geld zum Telefonieren hatte? Es war wirklich zu wichtig, wie dieses eine Gespräch ausging, das sie sich noch leisten konnte, zu wichtig, um es zu versauen.
Als die Panikattacke vorüber war, hob Nelli wieder ab. 9.07 Uhr. Sie wählte. Freizeichen.
Was sag ich nur, ich hab mir noch gar nicht überlegt, was ...
» Von Frau zu Frau , Sie sprechen mit der zentralen Vermittlung, was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte eigentlich ...«
Nelli räusperte sich.
»Ich dachte, das sei die Durchwahl von einer Ihrer Reporterinnen, Herolder heißt sie. Hier Nelli Prenz.«
Zwei Münzen fielen durch. Nelli hatte noch knapp über vier Euro. Sie steckte zwei davon in den Apparat.
»Wir haben in der Redaktion eine Fiona Herolder, meinen Sie die?«
»Ja, wahrscheinlich. Können Sie mich verbinden?«
»Frau Herolder ist noch nicht am Platz. Ich schau mal, wann sie heute kommt.«
»Beeil dich!«, flüsterte Nelli und trat von einem Bein aufs andere.
»Sieht so aus, als ob sie heute gar nicht kommt. Kann Ihnen jemand anders weiterhelfen?«
»Ich weiß nicht, es ist nur, mein Geld ist gleich durch. Kann ich vielleicht eine Handynummer von dieser Frau Herolder bekommen und sie gleich anrufen?«
»Sie hat heute ihren freien Tag und ihr Mobiltelefon wahrscheinlich gar nicht eingeschaltet. Wenn Sie einfach morgen noch einmal anrufen würden.«
Es klackte, und eine weitere Münze rollte durch. Nelli machte eine Bewegung nach oben, war im Begriff, ihr letztes Geld einzuwerfen. Ihr Blick fiel auf die Bäckerei gegenüber.
»Hören Sie, es ist wirklich ganz wichtig. Bitte sagen Sie Frau Herolder, dass Nelli Prenz angerufen hat, es geht um den Serienmordfall am Gletscher, sie hat über einen Herrn Platzer Kontakt zu mir aufgenommen. Ich gebe Ihnen eine Nummer durch, unter der ich zu erreichen bin, wenn Sie nur ein paar Sekunden warten würden.«
Nelli ließ den Hörer baumeln und rannte zwischen hupenden Autos hindurch über die Kreuzung zur Bäckerei. Die Verkäuferin war gerade dabei, eine Pizzatasche über die Theke zu reichen. Der Kunde hielt sein Geld bereit.
»Entschuldigung«, rief Nelli außer Atem und legte mit einem lauten Klirren ihre letzten Münzen auf die Glastheke. »Ich habe eine ungewöhnliche Bitte. Ich erwarte einen dringenden Anruf, aber habe kein Handy. Das Geld ist für Sie, wenn Sie mir Ihre Handynummer verraten, damit ich die als Kontaktmöglichkeit ...«
»Aber ich habe gar kein Handy«, sagte die Frau freundlich, während sie das Geld des Kunden entgegennahm und Nellis Geld wieder von sich schob.
»Oder die Nummer der Bäckerei hier?«, setzte Nelli nach.
»Ich hätte ein Handy«, mischte sich der Kunde ein, sah sie an und biss in seine Pizzatasche. Es war ein junger Kerl in halblangen grauen Hosen und weißem T-Shirt. Ein Socken war hochgezogen, der andere hing ausgeleiert herunter.
Nelli packte ihn am Arm, rannte los und zog ihn hinter sich her.
»Kau schnell runter«, befahl sie beim Laufen. »Ich gebe dir jetzt gleich eine Frau, der sagst du deine Nummer durch.«
»He, Ihr Geld«, hörte sie hinter sich die Verkäuferin rufen.
Nelli beachtete sie nicht, zerrte den jungen Mann aus dem Laden heraus und über die Straße. An der Telefonstele gab sie ihm den Hörer.
»Hallo«, sagte er, »ich soll Ihnen meine ... Hallo?«
Er zuckte mit den Schultern und nahm den Hörer vom Ohr.
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