»Da ist niemand dran.«
Nelli starrte ihn an.
Aus und vorbei.
Ein Schwall Tränen schoss ihr in die Augen.
Auch das noch!
Sie schniefte, räusperte sich und drehte sich halb weg, um sich die Augen abzuwischen.
Bin ich schon so mit den Nerven runter, dass ich beim kleinsten Anlass heule? Jetzt bloß kein Dammbruch!
Sie schluckte, kämpfte dagegen an, zwang sich, an etwas anderes zu denken, vorwärts zu denken. Nach Lösungen zu suchen. Für alles gab es eine Lösung, immer.
»Kann ich jetzt einhängen?«, fragte der junge Mann.
»Ja, klar, entschuldige«, antwortete Nelli und räusperte gegen ihre kratzige Stimme an.
»Das war wohl sehr wichtig?«
Die Frage war so dumm, dass Nelli nicht wusste, ob sie lachen oder eine giftige Bemerkung machen sollte. Aber es war mitfühlend gemeint, und deshalb nickte sie nur und schenkte ihm ein kleines Lächeln, während er einhängte.
»Aber wenn Sie dort angerufen haben, müssten Sie doch die Nummer wissen?«
»Die Nummer schon, aber kein Geld mehr.«
Ihre letzten Münzen fielen ihr ein. Kam es noch drauf an, sich die zurückzuholen? Für eine letzte kleine Mahlzeit würde das Geld reichen. Danach war betteln angesagt.
»Sind Sie so eine Art Weltenbummlerin?«, fragte der junge Mann und starrte auf ihr bepacktes Fahrrad.
»Ja. Ja, kann man sagen.«
»Und wo waren Sie überall? Auch im Ausland?«
»Überall, ja.«
»Weltweit?«
»So ziemlich.«
»Wow. Also ... ich könnte Ihnen doch mein Handy geben, wenn es so wichtig ist.«
Nelli, die in Gedanken versunken gewesen war und ziemlich widerwillig geantwortet hatte, schaute ihn an und lächelte.
»Das ist lieb von dir, aber es handelt sich um ein Ferngespräch, und ich könnte dir das im Moment nicht ...«
»Ist doch egal.«
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und hielt es ihr hin. Nelli zögerte.
»Na ja, also, wenn alles klappt, dann kann ich es dir vielleicht doch zurückzahlen, wenn auch erst in ein paar Tagen.«
»Alles klar.«
Sie nahm das Handy entgegen und starrte auf die winzige Tastatur.
»Was muss ich jetzt ...«
Der junge Mann hatte gerade den letzten Bissen Pizzatasche in den Mund gestopft und sagte kauend: »Einfach wählen. Zeigen Sie mal her. Ist das im Ausland?«
»Nein, München, aber, wie gesagt, sobald ich Geld habe ...«
»Kein Problem. Hier bitte.«
Nelli lauschte dem Freizeichen, räusperte sich.
»Ja, hier ist noch mal Nelli Prenz. Sie haben leider aufgelegt, bevor ich Ihnen eine Nummer durchgeben konnte, unter der mich Frau Herolder jetzt erreichen kann. Ja, ich bin die Gletscherfrau. Aber es müsste gleich sein. Moment mal.«
Nelli wandte sich an den jungen Mann.
»Wie ist deine Handynummer?«
Er nannte ihr häppchenweise eine Zahlenreihe, und Nelli wiederholte sie für die Frau am Telefon.
»Und, wie gesagt, sie möchte mich bitte umgehend ... Was, ja, das haben Sie, aber ... Nein, morgen ist zu spät, weil ... Hallo? Hallo!«
»Probleme?«, fragte der junge Mann flüsternd.
Nelli gab ihm sein Handy zurück und schüttelte den Kopf.
»Schon gut. Pass auf, äh ... Wie heißt du überhaupt?«
»Rolf.«
»Pass auf Rolf ... Ich bin übrigens Nelli.«
Sie schüttelten sich die Hände, und Nelli hatte ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber beim Gedanken daran, wo ihre Hand vor kurzem herumgewühlt hatte. Aber, was er nicht wußte ...
»Du bekommst wahrscheinlich morgen einen Anruf von einer Frau Herolder. Bitte lass dir ihre Handynummer geben und hinterlege sie mir bei der Verkäuferin. Würdest du das machen?«
»Klar. Aber Sie haben doch kein Geld mehr zum Telefonieren, dachte ich ...«
»Ja, aber ... Bis morgen fällt mir schon was ein. Ich zeig mich erkenntlich, versprochen.«
»Schon gut.«
»Also dann.«
»Wollen Sie sich nicht wenigstens Ihr Geld zurückholen?«
Er zeigte mit dem Kopf zur Bäckerei.
»Ja, klar. Du kannst mich übrigens auch duzen, so alt, wie ich aussehe, bin ich noch nicht.«
Sie wollte es scherzhaft rüberbringen, aber er nickte nur, und Nelli deutete seinen Blick als mitleidig. Zum Teufel damit.
»Was hat das eigentlich zu bedeuten: die Gletscherfrau ...?«
»Was? Ach, das war nur, das ist ... eine lange Geschichte.«
»Ist Ihnen was Schlimmes passiert?«
Nelli schaute ihn an. Sie konnte nicht anders, sie musste lächeln. Das war wieder so eine einfältige Frage, die sie in Rage gebracht hätte, wäre da nicht sein rührend treuherziger Blick dazu gewesen.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Nelli.
»22. In zwei Wochen.«
Sie nickte und fühlte so etwas wie Beschützerinstinkte erwachen. Der junge Kerl wirkte so hilflos – eher wie ein kleiner Bub als der erwachsene Mann, der er ja eigentlich schon war.
»Ja, mir ist viel Schlimmes passiert, Rolf. Aber auch, wenn ich so aussehe, ich bin eigentlich keine Landstreicherin. So zu leben, das war eine bewusste Entscheidung, weißt du, zumindest war ich nicht gezwungen ...«
Was sollte das denn? Ist es jetzt schon so weit, dass du dich vor fremden Leuten ungefragt rechtfertigst?
Tatsächlich ertappte sich Nelli dabei, dass sie sich vor ihm für ihr Auftreten schämte. Wie sie wohl riechen mochte mit ihrem Abfallbehälter-Arm – nicht auszudenken!
»Möchten Sie darüber reden? Ich lade Sie zu einem Kaffee ein.«
Nelli schaute ihn an und lachte.
»Was?«
Er lachte zurück.
»Warum nicht?«
Nelli stutzte. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Sein Lachen wirkte nicht echt. Das freundliche Angebot war unangemessen und passte nicht zur Situation.
»Haben Sie Angst, ich will was von Ihnen?«
»Nein, aber ... das lassen wir lieber.«
»Sicher?«
Nelli nickte entschieden.
»Wie Sie möchten.«
»Aber danke. Für alles.«
»Machen Sies gut.«
Er hob den Arm, als wolle er sich mit Handschlag verabschieden, machte dann aber ein angedeutetes Winken aus der Geste und ging federnd davon. Nelli sah ihm nach, bis er rechts um die Ecke verschwunden war.
Reden. Darüber reden. Bei einem Kaffee. Über alles, was ihr passiert war. Nein, das mochte sie wirklich nicht.
Aber mit der Klatschzeitungsfrau würde sie es müssen. Vielleicht gab es doch noch eine andere Lösung, zu Geld zu kommen.
Als Nelli am nächsten Morgen ihr Fahrrad neben der Bäckerei abstellte, um die Notiz mit der Telefonnummer der Reporterin Herolder abzuholen, erlebte sie eine Überraschung, die ihr gar nicht gefiel. Rolf stand da selbst mit einem zusammengefalteten Zettel in der Hand und grinste sie an.
»Stehst du da schon lange? Wir hatten doch gar nichts ausgemacht, schon gar keine Zeit«, begrüßte sie ihn nicht gerade freundlich.
»Hier, Ihr Geld«, sagte er fröhlich und streckte ihr seine Hand mit ein paar Münzen entgegen. »Die Verkäuferin hatte es zur Seite gelegt. Sie haben es sich gestern offenbar doch nicht mehr geholt.«
»Nein.«
Sie hatte es schlicht vergessen und erst abends wieder daran gedacht. Den ganzen Tag war sie kreuz und quer durch ihre Heimatstadt geradelt, war schließlich im Naherholungsgebiet Untreusee hängen geblieben, hatte sich selbst und ein paar Klamotten im See gewaschen und hatte nachgedacht über ihre Möglichkeiten. Man spazierte nicht einfach in irgendwelche Firmen und fragte nach Jobs. Schon gar nicht, wenn man so aussah wie sie. Man studierte Stellenangebote, schickte Bewerbungen, wurde eingeladen, machte sich schick dafür, zeigte sich von seiner besten Seite ... – ein wochen- und monatelanger Prozess, für den sie keine Zeit und kein Geld hatte. Alle Grübelei hatte sie schließlich zu einer einzigen letzten Möglichkeit geführt, die ihr blieb, wenn sie ihre Geschichte nicht verkaufen oder betteln gehen wollte: Sie musste zum Sozialamt. Musste sich registrieren, einen Wohnsitz zuweisen lassen und dann auf Vermittlung hoffen in irgendeinen Superbilligjob. Mittelmäßig-mieses Abitur, Soziologiestudium abgebrochen, reich geheiratet, Luxusleben geführt, danach ausgeflippt, jahrelang ziellos um die Welt geradelt und mit knapp 40 am Ende der Fahnenstange angelangt – das war ihr Lebenslauf. Tauglich für eine Karriere als Aushilfskraft. Oder sie konnte sich überwinden und ihre Geschichte erzählen.
Читать дальше