»Was soll das heißen?«, fragte Fiona Herolder mit konstant wohlwollender Stimme.
»Sie bekommen meine komplette Geschichte und dürfen sie in Ihrer Illustrierten veröffentlichen. Außerdem dürfen Sie das Ganze anschließend oder begleitend als Buch herausbringen. Was sagen Sie?«
»Klingt gut.«
»Dann gebe ich Ihnen mal meine Kontonummer.«
»Nicht so hastig. Sie denken doch nicht, dass ich Ihnen einfach so Geld überweise.«
»Natürlich nicht den vollen Betrag. Eine Anzahlung von 1.000 Euro für erste Spesen, dann können wir uns irgendwo treffen.«
»500 Euro. Und mehr, wenn ein schriftlicher Vertrag abgeschlossen wurde.«
»1.000 Euro, denn mein Konto ist restlos überzogen. Wenn Sie weniger als 1.000 überweisen, kann ich nichts abheben und kann folglich nicht zu einem Treffen kommen.«
»Also 1.000 Euro. Morgen um 15 Uhr in der Redaktion in München.«
»Ich komme, wenn das Geld da ist. Und ich komme nicht in irgendeine Redaktion.«
Die Reporterin antwortete erst nach einem ärgerlichen Schnaufer, und diesmal klang sie so, wie sie wahrscheinlich wirklich war – bar jeder Freundlichkeit.
»Ich hoffe, Ihre Geschichte ist so gut wie das, was ich aufgeschnappt habe.«
»Gut ist das falsche Wort. Haben Sie was zu schreiben?«
Nelli gab ihr die Nummer ihres Kontos durch und legte auf.
»He!«, rief Rolf abermals. »Und was ist mit mir?«
»Jetzt zu dir«, sagte Nelli. Sie war so richtig in Fahrt. Gerade eben hatte sie eine neue Seite an sich entdeckt: Sie konnte ihre Interessen vertreten, sie konnte verhandeln – früher hatte sie bei allem klein beigegeben und sich gefügt.
»Sobald ich den Vorschuss habe, bekommst du 100 Euro Fahrgeld. Wir packen mein Fahrrad und meine Sachen in deinen Kofferraum und treffen diese Frau Herolder an irgendeinem neutralen Ort in München. Wenn sie dich mitmachen lässt, ist es gut, wenn nicht, dann gebe ich dir weitere 100 Euro für deinen Aufwand, dann sind wir mehr als quitt, und unsere Wege trennen sich.«
Er blies die Backen auf und wollte mit Protest loslegen.
»Und wenn dir das nicht passt, trennen sich unsere Wege sofort.«
Er verzog das Gesicht.
»Hoffentlich lässt sich Ihr Fahrrad zerlegen«, nörgelte er. »Ich hab nämlich bloß ne Ente.«
»Das ist Rolf Kressel, ein Journalistikstudent, der ein Praktikum sucht«, stellte Nelli ihn vor, nachdem Fiona Herolder mit einem Zucken des Kopfes und übertrieben betontem Zusammenziehen der Augenbrauen signalisiert hatte, wie wenig sie davon hielt, einen Begleiter an Nellis Seite vorzufinden.
Es hatte zwei Tage gedauert, bis das Geld auf Nellis Konto eingetroffen war – zwei Tage, die sie damit zugebracht hatte, ihre Erinnerungen zu sortieren, ohne jedoch irgendwas davon in ihr Tagebuch zu schreiben. Das Tagebuch, für das sie fast ihr Leben verloren hätte, steckte nach wie vor in der Schutzhülle in einem Stoffbeutel ganz unten in ihrer linken Satteltasche. Nelli hatte seit jener schrecklichsten Nacht ihres Lebens nicht einmal Albträume gehabt, geschweige denn Panikattacken, Depressionen oder Todessehnsucht – der ganze Psychomist, mit dem andere Leute nach einschneidenden Erlebnissen sich herumplagen, war ihr erspart geblieben, aber sie hatte eine tiefsitzende Abneigung, ihr Tagebuch hervorzuholen, hineinzuschauen oder gar etwas aufzuschreiben. Erlebnisse aufschreiben – das war vorher gewesen. Würde sie ihre Erlebnisse denn aber erzählen können? Die Anzahlung war eine Verpflichtung, die Nelli Unbehagen und Erleichterung gleichermaßen bereitete. Mit dem Vorschuss war ihr Konto von minus 1.000 Euro, ihrem recht kläglichen Dispo, auf genau null gerutscht, womit sie erst mal wieder überziehen konnte.
Rolf war für die 100 Euro Fahrgeld sichtlich dankbar gewesen, und als Nelli seine klapprige hellgrüne Ente sah, war ihr auch klar, wieso. Das Fahrrad passte mit abmontiertem Vorderrad gerade so auf die Rückbank, die Packtaschen fanden nur mit Mühe Platz in dem winzigen Kofferraum. An der ersten Tankstelle Richtung Autobahn tränkte Rolf sein Gefährt nicht nur mit Sprit, sondern auch mit Kühlerflüssigkeit und Öl, und das jeweils nicht zu knapp.
Obwohl der Sommer sich von seiner besten Seite zeigte, fror Nelli bitterlich im Fahrtwind, der durch alle Ritzen der Ente zog, und kaum in München eingetroffen, begann sie heftig zu niesen. Seit Jahren war sie nicht erkältet gewesen, und jetzt das, ausgerechnet. Am nächsten Tag, als sie auf dem Münchner Marienplatz zu dem Treffen erschienen, fühlte sie sich absolut beschissen. Fiona Herolders Gesicht, als ihr Rolf vorgestellt wurde, zog sie gar ganz hinunter, und sie sah ihre Felle davonschwimmen.
»Schön für Herrn Kressel, aber was soll das?«, fragte die Reporterin. Rolf, der seine Hand zur Begrüßung ausgestreckt hatte, zog sie betreten wieder zurück, als klar wurde, dass mit einer Erwiderung nicht zu rechnen war.
»Er würde gern zuhören, vielleicht auch mal was zur Story beitragen, wenn Sie nichts dagegen haben, und ansonsten einfach nur ein bisschen was von Ihnen lernen.«
»Ist nicht drin. Ich arbeite allein, und ich bin auch kein Babysitter.«
»Aber ...«, wollte Rolf protestieren. Nelli stellte ihr Fahrrad auf den Ständer, nahm ihn sanft am Arm, zog die 100 Euro hervor, die sie in ihrer rechten Jeanstasche für diesen Fall bereit gesteckt hatte, und drückte sie ihm in die Hand.
»Denk daran, was wir ausgemacht haben. Tut mir leid, Rolf, noch mal danke für alles, und komm gut heim.«
Der junge Mann, so verdattert er noch war, stemmte sich gegen Nellis Versuch, ihn ein paar Schritte weit wegzuführen.
»Was haben Sie denn gegen mich?«, rief er über die Schulter zurück in Richtung Fiona Herolder.
»Du hast es versprochen«, beschwor ihn Nelli und drückte seinen Arm jetzt deutlich fester. Sie war heilfroh, ihr Fahrrad und ihre Sachen nicht im Auto gelassen, sondern hierher zum Treffen mitgebracht zu haben.
»Aber ich will doch nur zuhören!«
Fiona Herolder hatte sich längst beiseite gedreht, eine Zigarette aus ihrer Fototasche geholt und in kurzen, verärgerten Stößen den ersten Lungenzug wieder ausgepustet. Rolf starrte sie hasserfüllt an.
»Wir hatten was vereinbart«, zischte ihm Nelli zu. »Ich hab meinen Teil erfüllt, wir sind uns nichts schuldig.«
»Von wegen!«
Er riss seinen Arm los und registrierte mit einem Rundumblick, dass etliche Passanten stehen geblieben waren und herstarrten. Ohne Nelli noch mal zu beachten, drehte er sich weg und stampfte davon.
»Das war sehr unprofessionell«, bemerkte Fiona Herolder in ihrer professionellen Freundlichkeit und zeigte Nelli ein hartes Lächeln.
»Er meints nicht so«, wollte Nelli beschwichtigen.
»Das bezog sich auf Sie. Was weiß er über die Story?«
»Gar nichts.«
»Und für welche Zeitung arbeitet er?«
»Für gar keine. Er ist Student auf der Suche nach einem Praktikumsplatz.«
Fiona Herolder schüttelte den Kopf und ließ ihre Zigarette fallen, ohne sie auszutreten.
»Ihnen kann man anscheinend alles erzählen.«
»Also jetzt hören Sie mal«, wollte Nelli ansetzen. Da fing das Glockenspiel des Münchner Rathauses an zu bimmeln, und sie schenkte sich ihre Antwort. Nelli nahm ihr Fahrrad vom Ständer, die beiden setzten sich in die Gegenrichtung des Rathauses in Bewegung und entflohen dem Krawall.
»Und wohin wollen Sie nun, wenn schon nicht in die Redaktion?«, fragte Fiona Herolder, und es klang ziemlich spitz. Nelli schaute sie sich jetzt erst von oben bis unten an. Die Frau war um die dreißig, groß und schlank. Über dem dunklen Pferdeschwanz trug sie eine Bundeswehr-Heereskappe. Ihre hautengen Jeans waren über kniehohen schwarzen Stiefeln aufgekrempelt.
»Wissen Sie was«, sagte Nelli. Ich hab mich nicht nur unprofessionell, sondern absolut unfair verhalten.«
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