Wäre sie damals umgekehrt, gleich hier oder spätestens an der Förmitztalsperre ...
Es ist nie zu spät! Nelli gab sich einen Ruck, wendete ihr Fahrrad, schob es vom Gehsteig, schwang sich auf den Sattel und nahm die Straße zurück Richtung Hof.
Sie mied den Radweg und folgte der Hauptstraße durch den Stadtteil Moschendorf über die Wunsiedler Straße Richtung Alsenberger Durchlass. War das wirklich der kürzeste Weg? Oder wäre es doch auf dem Radweg schneller gegangen? Oder gleich hier rechts über die Ascher Straße? Wozu überhaupt die Eile?
Nelli bremste so abrupt, dass es ihr fast die Räder wegzog. Da sie sich an der Kreuzung zur Mitte hin eingeordnet hatte, musste ein Sattelschlepper hinter ihr mit einem Schlenker ausweichen und drückte auf die Hupe, bis er an ihr vorbei war. Sie hörte es nur mit halbem Ohr. Denn ihr war eingefallen: Wenn Andi wirklich noch lebte, wenn er ihr auf den Fersen war – dann war sie vielleicht jetzt im Begriff, ihm zu zeigen, wo Monika wohnte.
Als ob er das nicht auch im Telefonbuch nachschlagen könnte! Vielleicht war er sogar schon dort oder auf dem direkten Weg zu ihr, und sie konnte das Schlimmste verhindern, wenn sie nicht zögerte.
Wie angeleimt stand Nelli mitten auf der Hauptverkehrsstraße, wurde vom Verkehr umtost und wusste nicht weiter.
Er war tot! Er war so zweifellos mausetot, dass es einfach lächerlich war, überhaupt umgekehrt und nach Hof zurückgefahren zu sein.
Aber wo war dann seine Leiche?
Es half nichts, sie musste Monika zumindest warnen. Und sie musste es persönlich tun, nicht telefonisch. Es führte kein Weg daran vorbei, sie musste noch einmal bei ihrer Stieftochter vorfahren und klingeln, ihr unter die Augen treten. Davor hatte sie doch die eigentliche Angst: Nachdem sie es nach sieben Jahren Davonlaufen endlich hinter sich gebracht hatte, sich zu entschuldigen, nun innerhalb von zwei Tagen ein zweites Mal dort aufzutauchen, diesmal mit der Horrornachricht, dass womöglich Gefahr durch einen irren Serienmörder bestand.
Zögerlich, so langsam, dass sie beim Anfahren schwankte, setzte Nelli das Fahrrad wieder in Bewegung.
Auch das musste sie wohl noch hinter sich bringen. Es ließ sich nicht vermeiden.
Monika öffnete nicht.
Nelli klingelte noch einmal und auch noch ein drittes und viertes Mal. Sie hämmerte mit der Unterseite der Faust gegen die wuchtige, dunkel gebeizte Massivholztür. Womöglich war Andi schon ...
Blödsinn!
Dennoch, sie konnte nicht einfach wieder davonfahren. Vielleicht eine Nachricht in den Briefkasten stecken?
Nein, lieber warten. Es musste persönlich sein.
Nelli ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf das Treppchen davor sinken, spürte Splitt und Unebenheiten in ihren Hintern pieksen, wischte den Dreck schnell weg, hockte sich wieder hin, zog die nackten Beine an, umklammerte sie und starrte zum Gartentürchen, hinter dem die Straße und der Gehsteig verliefen.
Millionenhügel nannte der Volksmund diese Gegend über der Stadt am Rande des Bürgerparks Theresienstein. Was war Nelli einst stolz gewesen, hier zu leben. Wie oft hatte sie diese Treppenstufen genommen und war den Weg zum Gartentürchen zur Straße gelaufen? Nicht oft. Meist war sie mit einem der Autos unterwegs gewesen. Ihr Weg hatte sie dann innen an der Haustür vorbei durch eine Seitentür in die Garage geführt: Garagentorfernbedienung gedrückt, die schmale, von hohen Tannen gesäumte Auffahrt zurückgestoßen, nach links eingeschlagen in die meist menschen- und autoleere Straße und ab zum Training auf den nur ein paar 100 Meter entfernten Tennisplätzen oder in Richtung Stadt zu Massageterminen, zur Maniküre, zum Shopping oder einfach nur zum Kaffeeklatsch.
Kaum zu glauben. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt mal so gelebt hatte. Wie lange das schon wieder her war! Und wie greifbar ihr diese Zeit doch noch schien.
Ein Auto näherte sich. Eine Seltenheit in dieser ruhigen, in sich geschlossenen Wohngegend. Das Fahrgeräusch wurde lauter, und zugleich ging das Motorengeräusch zurück, je näher es kam. Es wurde abgebremst und dann hielt das Auto direkt am Grundstück auf der anderen Seite des Zauns. Nelli streckte sich, war unschlüssig, ob sie aufstehen sollte. Monika würde doch nicht auf der Straße parken, sondern die Einfahrt zur Garage benutzen. Eine Autotür ging auf, wurde zugeworfen, Schritte kamen näher.
Eine Frau mit halblangen dunklen Haaren und Sonnenbrille erschien auf der anderen Seite des Gartentürchens, stutzte, erschrak, als sie Nelli sah, nahm die Sonnenbrille ab, wollte sich empören, stutzte abermals, schaute kurz auf das Fahrrad, begriff und fragte erstaunt: »Nelli?«
»Ja, ich bins, Stefanie.«
Nelli lächelte unsicher, stand auf und ging der Schwester ihres verstorbenen Mannes entgegen, die sie von Kopf bis Fuß musterte.
»So siehst du jetzt also aus ...«
Stefanies erstaunter, zunächst freudig überraschter Gesichtsausdruck war sofort nach dem Erkennen einer Miene der Ablehnung, Verbitterung und herablassend distanzierter Höflichkeit gewichen. Der Blick brannte Nelli in der Seele, sie las darin Genugtuung, sogar eine ganz offene, diebische Freude: Früher warst du die Attraktivere von uns beiden, aber sieh dich jetzt mal an!
»Hat Moni dir nicht erzählt, dass ...«
»Doch, deshalb bin ich ja hier.«
Stefanie öffnete das Gartentürchen, kam herein, ließ es offen stehen, näherte sich Nelli bis auf einen Meter Abstand und nahm Aufstellung auf dem linken Bein als Standbein, das rechte leicht ausgestreckt ihr entgegen, die Botschaft war eindeutig: Komm mir nicht zu nahe!
»Ich hab geklingelt, aber es macht niemand auf«, sagte Nelli verunsichert. »Wollt ihr euch hier treffen?«
»Nein, ich schau nur nach dem Haus.«
»Dann ist Moni gar nicht da?«
»Warum interessiert dich das? Was machst du überhaupt schon wieder hier?«
»Na, also hör mal!«
»Leidest du an Gedächtnisschwund oder so was?«
Nelli senkte resignierend den Kopf.
»Hör mal, Stefanie, ich hab Moni ...«
»Nenn sie nicht Moni, verdammt noch mal!«
»Ich hab Monika vorgestern alles erklärt, und ich bin gern bereit, es auch dir zu erklären. Lass uns nicht mit Vorwürfen neu anfangen.«
Stefanie zog ihr ausgestrecktes Bein zurück und machte es zum Standbein. Sie stützte die Hände in die Hüfte und produzierte einen Schnaufer der Empörung durch die Nase.
»Neu anfangen? Du bist ..., also das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: gerne bereit oder wie war das? Du willst alles erklären und neu anfangen? Also, das ist doch ... da fehlen mir einfach die Worte!«
»Das war so nicht gemeint. Ich wollte nur ...«
»Weißt du, was ich glaube?«
Nelli biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Dir ist das Geld ausgegangen.«
»Nein!«
»Du hast das Konto geplündert, und jetzt willst du an das eigentliche Erbe ran.«
»Stefanie ...«
»Du bist wirklich das Letzte.«
Sie trat einen Schritt zur Seite, deutete auf das offene Gartentürchen und starrte Nelli hasserfüllt an.
»Raus hier, auf der Stelle! «
Nelli wurde es zu dumm, und sie verschränkte als Zeichen, nicht weichen zu wollen, die Arme.
»Also, tut mir leid, dass ich das so deutlich sagen muss, Stefanie, aber das ist streng genommen immer noch mein Haus und Grundstück.«
»Wie viel willst du?«
»Was?«
»Sag schon, wie viel? Nenn einen Betrag.«
»Ich hab Monika nicht um Geld gebeten. Hat sie dir das etwa erzählt?«
»Nein, so plump bist du natürlich nicht, davon gleich beim ersten Besuch anzufangen. Erst mal wurde das Drama der reuigen Sünderin aufgeführt.«
»Also, das wird mir jetzt zu blöd, Stefanie. Wenn du nicht bereit bist, vernünftig mit mir zu reden ...«
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