Normalerweise ging Roland Benito nicht zu solchen politischen Versammlungen, aber als er gesehen hatte, dass der Gründer der kontroversen Partei einen Vortrag hielt oder Mitgliederwerbung betrieb oder was auch immer das nun war, weckte das seine Neugierde. Siljas Byskov hatte auf Facebook verbreitet, dass er selbst Mitglied der Partei sei und ihre Ansichten unterstütze. Rolands Kollege, Mark Haldbjerg, der im Fall Siljas Byskov ermittelte, erwähnte Gerüchte über rassistische Motive, den Busfahrer zu erschießen, sodass es im Augenblick für Byskov nicht gut aussah. Roland musste nicht daran erinnert werden, dass es nicht sein Fall war, dass er stattdessen die wahrscheinlich falschen Beamten in Kopenhagen überprüfen sollte, aber er und seine Kollegin Karina fuhren erst morgen gen Osten. Und was er privat unternahm, ging niemanden etwas an.
Es eilte nicht, nach Hause zu kommen. Irene war bei einem Treffen der Dänischen Flüchtlingshilfe. Nach der Wahl und der neuen Regierung hatte es neue Regelungen gegeben, mit denen sie sich als ehrenamtliche Beraterin vertraut machen musste. Unter anderem betrafen Änderungen die Familienzusammenführungen. Anschließend sollte sie als Sozialarbeiterin zwei Stunden lang bis mindestens 19:00 Uhr in den Räumlichkeiten der Dänischen Flüchtlingshilfe im Paludan-Müllers Vej vor Ort sein, wo er sie abholen würde. Es war nur einmal pro Woche und passte gut, um rauszukommen. Omar und Majak aus dem Südsudan, die bei ihnen wohnten, bis die Gemeinde eine andere Unterkunft fand, waren beim Fußball, wie es für zwei Jungs von 11 und 13 Jahren normal war. Hier in Dänemark jedenfalls. Glücklicherweise sprachen sie beide Englisch, was die offizielle Sprache des Südsudans war, und sie waren Christen, dieses Mal also kein Gebetsraum und keine Gebetsteppiche. Angolo musste daher auch nicht weggeschickt worden, weil der Hund als unreines Tier galt, und die beiden Jungs schienen ihn zu lieben. Das war eine große Erleichterung für Roland. Die schrecklichen Erlebnisse des letzten Sommers hatten ihre Spuren hinterlassen. Auch bei Irene.
„Wenn der Urmensch einen Fremden traf, der ihm nicht ähnelte und mit dem er nicht kommunizieren konnte, wurde er unruhig, denn wie kann man etwas gemeinsam haben und sich gegenseitig helfen, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht und eine völlig unterschiedliche Kultur und Religion hat? Der Steinzeitmensch würde nach seiner Keule oder einem großen Stein greifen und die Fremden töten“, schloss Tobias Holmetoft.
„Sind wir dann nicht bei den Neandertalern angelangt?“, fragte einer der Zuhörer, von dem Roland sofort dachte, er müsse Journalist sein.
„Na, da sitzt wohl ein Skeptiker“, lachte Tobias Holmetoft mit einem beschwichtigendem Lachen. „Doch, Sie haben recht, aber weiter ist unser Gehirn dann auch nicht wirklich gekommen.“
„Seins auf jeden Fall nicht“, hörte Roland eine Frau vor sich ihrem Nachbarn zuflüstern. Offenbar hatte Holmetoft nicht alle Frauen im Saal betört.
„Die Entwicklung des Menschen wurde doch wohl dadurch vorangetrieben, dass wir anderen Kulturen gegenüber aufgeschlossen waren und begannen, mit ihnen zu handeln und Erfahrungen auszutauschen“, machte der Journalist eisern weiter.
Tobias Holmetoft nickte mit aufgesetzt nachdenklicher Miene. „Ja, da haben Sie recht, aber ich sage ja auch nicht, dass wir nicht mit anderen zusammenarbeiten sollen. Und hier ist wichtig zu betonen, dass diese Entwicklung nur stattfand, weil wir gegenseitig die Kultur respektierten und …“
„Ja, aber ist das nicht genau das, was ihr in der DFD nicht macht?“
„Lassen Sie mich erst ausreden!“ Holmetoft verlor nicht die Fassung, sondern lächelte dem Journalisten verständnisvoll zu. „Doch, wir respektieren die Kulturen in anderen Ländern. Jedes Land darf seine Kultur haben, aber wir sollen auch unsere haben. Wir sind ja nicht diejenigen, die die Kultur der Migranten ändern wollen, es ist umgekehrt. Wenn man Gast in einem anderen Land ist, muss man sich nach deren Lebensweise richten, wie wir es auch tun, wenn wir andere Länder besuchen, und will man sogar in Dänemark wohnen, ja, dann muss man auch wie die Dänen leben.“
Im Saal entstand ein leises Gemurmel. Es klang wie ein Ausdruck der Zustimmung. Der Journalist schwieg und Tobias Holmetoft fuhr fort.
„Als Herdentier geht es darum, sich selbst, seine Familie und sein Territorium zu beschützen, um zu überleben. Und ich sage ganz bewusst Herdentier, denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir das sind. Tiere. Es sind die Instinkte, die in Kraft treten, wenn man in unser Territorium einfällt.“
Tobias Holmetoft hielt in seiner Wanderung vor dem Publikum inne und stellte sich frontal hin. Er wurde ernst.
„Unsere Alten und Schwachen in der Gesellschaft werden im Stich gelassen.“ Er deutete auf das umstrittene Werbeplakat. „Es könnte auch eine Obdachlose sein, die hier zusammen mit der Migrantin steht. Wie können vom Volk gewählte Politiker in Christiansborg akzeptieren, dass Dänen auf der Straße leben ohne ein Dach über dem Kopf, während Flüchtlinge und Migranten Hilfe für Wohnung und Arbeit bekommen, sobald sie dänischen Boden betreten? Ja, sie setzen sogar leere Wohnungen für die Flüchtlinge instand. Es gibt eine Spendenaktion nach der anderen für diese Fremden. Warum machen wir das nicht für unsere eigenen Landsleute?“
Er machte eine Pause und stand da, als wartete er auf eine Antwort, die nicht kam. Die Zuhörer im Saal wagten kaum zu atmen.
„Unser Gesundheitssystem hat sich verschlechtert und die Schulen unserer Kinder schließen, weil es nicht genug Geld für das Gemeinwohl gibt. Und warum nicht?“
Die Frage hing in der Luft. Sein ruhiger und stahlharter Blick glitt über die ganze Versammlung.
„Weil das Geld an die Migranten und Flüchtlinge geht, und beachten Sie darüber hinaus ein paar Zahlen. Die Migranten aus nicht-westlichen Ländern belasten die öffentlichen Kassen mit 16,6 Milliarden Kronen pro Jahr, wie eine Analyse vom letzten Jahr zeigt. Das ist eine Menge, finden Sie nicht?“
Roland rutschte unruhig hin und her, da er spürte, dass der Blick zu lange auf ihm ruhte. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Er fiel in der Gruppe mit seinem südländischen Äußeren auf. Jeder konnte sehen, dass er kein gebürtiger Däne war, aber konnten sie auch sehen, dass er Italiener war? Dass er zu den westlichen Migranten gehörte – falls er sich so nennen konnte –, die, wie er gerade in der Zeitung gelesen hatte, mit 3,8 Milliarden Kronen zu den öffentlichen Kassen beitrugen? Er versuchte ein Lächeln, und Tobias Holmetofts Blick glitt weiter. Natürlich widersprach ihm niemand. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Rednerpult.
„Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht vielmehr um Kultur, Glauben und Sprache, durch die wir Dänen miteinander verbunden sind. Wir stehen nicht für das Köpfen von Menschen mit anderem Glauben als dem unseren, wir stehen nicht dafür, dass Frauen nicht arbeiten dürfen, nicht von anderen Männern angesehen werden dürfen und unter schwarzer Kleidung versteckt werden müssen. Wir stehen nicht für die Unterdrückung von Frauen. Wir stehen dafür, dass wir frei sprechen und uns äußern können, dass alle gleichgestellt sind und das Recht auf Ausbildung und Arbeit haben. Diese Fremden bringen ihre unheimliche Kultur mit hierher und wollen uns ändern, anstelle unsere Gastfreundschaft anzunehmen und nach unseren demokratischen Normen zu leben. Mehrere haben über das Furchtbare in dem uns und die geredet, aber nein, das ist nicht so furchtbar und verkehrt, so ist das! Es gibt entweder uns oder die, so wie sie selbst es darstellen. Sie rotten uns aus, wenn wir nicht wie sie sind. Der Islam ist nicht mit unserer Kultur vereinbar. Wir müssen Dänemark für die Dänen zurückgewinnen. Die Terroranschläge zeigen deutlich, was uns erwartet, wenn wir jetzt nicht Stopp sagen. DFD will dafür arbeiten, dass die dänischen Werte bewahrt werden, dass wir es uns leisten können, uns gut um die Alten zu kümmern, die unseren Wohlstand aufgebaut haben, und die Schwachen, die Hilfe benötigen, und nicht zuletzt, dass unsere Kinder in eine Schule gehen können, ohne sich den Traditionen anderer Kulturen anpassen zu müssen, sondern zusammen mit anderen dänischen Kindern ausgebildet werden. Gleiche Kinder spielen am besten, so ist das nun mal.“
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