Bei meinen bescheidenen Erfahrungen hatte ich keinen triftigen Grund anzunehmen, daß mein Glück wirklich und wahrhaftig war. Einige Bemerkungen meiner Frau, vor allem die letzte, hatten bewirkt, daß der nagelneue Stachel, der plötzlich in meinem Herzen steckte, immer stärkere Zündnadelsalven von Eifersucht abfeuerte. Obwohl ich von Zeit zu Zeit Rundfunk hörte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, er könnte so etwas wie eine Hinterbühne haben. Für mich steckte er ausschließlich in dem kleinen Kästchen, das seit Urzeiten auf dem Wandbord über unserem Küchentisch stand. Seit dem Tage, da es für meine Kinderfinger erreichbar war, hing an seinem Hauptknopf ein schweres Vorhängeschloß, das Paps nur an jenen Feiertagen abnahm, wenn Partei und Regierung ausnahmsweise die heilige Messe genehmigt hatten, in der Regel nach mißglückten Aufständen in den Nachbarländern. Zu dieser Maßnahme hatte er gegriffen, als er auf seine Bitte, ihm aus Gründen meiner Erziehung die Texte aller Sendungen vorher zuzuschicken, keine Antwort erhalten hatte. Ein einziger Satz meiner Frau fügte dem Rundfunk jetzt riesige und rätselhafte Räume hinzu, aus denen eine Kühle zog wie aus den Grotten der tschechisch-sächsischen Schweiz, die zu durchqueren ich mich auf einem Schulausflug so schaudernd geweigert hatte, daß die ganze Klasse einschließlich der Frau Lehrerin über das Felsmassiv klettern mußte, um zum Dampfer zu gelangen. Heute, nachdem ich ein paarmal vor der Pförtnerloge des Rundfunks auf meine Frau gewartet und ihr einmal sogar, selbstverständlich in Begleitung eines bewaffneten Werkschutzmannes, das vergessene Instrument bis ins Studio nachgetragen habe, macht mich meine damalige Vorstellung lachen. Damals aber, in den ersten Stunden unserer jungen Liebe, wütete meine Phantasie ohne jede Einschränkung.
Im Geiste stellte ich mir den Rundfunk als ein großes Nachtlokal vor, als die vielfache Vergrößerung einer Bar, in die mich vor den Abschlußprüfungen meine Klassenkameraden schleppten, nachdem sie zuvor meinen Eltern eine gefälschte Anweisung des Direktors geschickt hatten. Aus Unachtsamkeit nahm ich damals einen Schluck vom gespritzten Obstwein und war davon so betrunken, daß ich in der Nacht die ganze Klasse zu uns nach Hause brachte, damit sie sich meine Eisenbahn ansähe, die durch die ganze Wohnung fuhr. Als Mutsch die zwanzig jungen Männer mit Fliegen vor ihrem Bett stehen sah, hätte das leicht ihr Tod sein können. Noch dazu stellte sich heraus, daß ich mir eine solche Eisenbahn seit Kindertagen nur vergebens gewünscht hatte, und so dachte ich noch lange voll Scham daran zurück, wie meine Schulkameraden beifällig zuguckten, als ich den Gürtel von Paps’ Hose holen und mich über den Sessel beugen mußte, um von ihm gezüchtigt zu werden. Ich entsann mich trotzdem, daß es in jenem Nachtlokal viele mit Purpursamt verhängte Séparées gab, aus denen alle Augenblicke Frauengekreisch drang. Da im Rundfunk überdies, wie ich mir weiter denken konnte, weder Gäste noch Personal vorhanden waren, sondern ausschließlich meine Frau und die Musiker, suchten mich den ganzen Nachmittag über quälende Bilder heim, wie die zweite Hälfte des Orchesters, wann immer es sein Tacet hatte, hinter einem der purpurnen Vorhänge verschwand, um meine Frau ihrer Erwartung zum Trotz für die Unpünktlichkeit geil abzustrafen. Obwohl sie mir versichert und übrigens auch überzeugend bewiesen hatte, daß die Unzahl der Liebhaber keine Schäden an ihrem Leib hinterlassen und daß sie das Schönste, ihre Seele, ausschließlich für mich aufbewahrt habe, zitterte ich bei dem bloßen Gedanken, es hätte ihr einer von ihnen allein körperlich mehr bieten können als ich.
Ich ahnte freilich, daß die Liebe, wie jeder Bereich menschlichen Tuns, ihre Regeln, ihre Gesetze und Verordnungen, ihr Abc und ihr kleines Einmaleins hatte. Doch was für ein Jammer, daß mich keiner darin eingeweiht hatte! Meine Eltern waren allzu ehrenwerte Christen, als daß sie sich zu der lügnerischen Behauptung erniedrigt hätten, die Kinder bringe der Storch. Dennoch begingen sie nach der Episode mit Tante Eliška, offensichtlich um mich einzuschüchtern, einen pädagogischen Fehler, als sie mir auf Umwegen andeuteten, die Kinder kämen vom Küssen. Wie heute höre ich den schicksalhaften Satz, den sie wochenlang nach dem Morgen- und Abendgebet unauffällig an die Adresse unserer Hausmeisterstochter gerichtet sagten, die zu Beginn des Schuljahres erneut in die Ferien fuhr.
«Die hat so lange in unserer Durchfahrt rumgeknutscht, daß sie jetzt ein Lediges kriegen wird!»
Als ich endlich begriffen hatte, um was es ging, hätte das tragische Folgen haben können. Da ich kurz zuvor von der Hopfenernte heimgekehrt war, verbrachte ich die folgenden paar Monate in der unaussprechlichen Furcht, ich würde mit der Paulová ein vaterloses Kind haben. Dieser Irrtum wurde noch bestätigt, als die Paulová eine Woche vor ihrem Abitur tatsächlich niederkam. Bis ich zum Zwecke des Selbstmords ausreichend Streichholzköpfchen abgekratzt hatte, die ich mir, da ich kein Taschengeld bekam, Stück für Stück bei den Mitschülern zusammenschnorren mußte, benannte die Paulová zum Glück den Mathematiklehrer als Kindesvater, was jener auch zugab, wofür er strafweise zum Handarbeitslehrer degradiert wurde. Damals hatte ich schon für immer die Möglichkeit verpaßt, die mir nachträglich als das Natürlichste vorkommt, nämlich meine Kameraden zu fragen. Aus ihren Anmerkungen zum Fall Paulová, die von fremdsprachigen, mir leider völlig unbekannten Begriffen wimmelten, wie Vagina, Koitus und Interruption, gewann ich jedoch die Überzeugung, daß sie bei weitem aufgeklärter waren als ich und obendrein über unvergleichlich größere praktische Erfahrungen verfügten. Feinfühlig wie ich war, hätte ich ihren Spott kaum überlebt. Und so wandte ich mich wieder und wieder dringlich an meine Eltern. Endlich hatte ich offenbar mein Ziel erreicht, denn eines Nachts vernahm ich, wie immer an die undichte Schwelle ihres Zimmers gepreßt, in der vergeblichen Hoffnung, sie würden mich vielleicht durch ihr eigenes Beispiel aufklären, ein leises Zwiegespräch.
«Ich glaube», sagte Paps hörbar besorgt, «wir werden es ihm wirklich sagen müssen!»
«Aber Vilibald!» widersetzte sich Mutsch unglücklich, «er ist doch noch so jung, wozu ihm so früh die Illusionen rauben?»
«Seine Illusionen kann er anders und viel schlechter verlieren», erwiderte Paps, «die erstbeste Nutte, die sich verheiraten will, hängt ihm einen Bastard an, und er weiß noch weniger als die Jungfrau, wie er zum Kind gekommen ist!»
Obwohl ich längst nicht alle Worte verstand, war mir klar, daß seine Sorge um mich weitaus größer war als sonst.
«Aber wer wird es ihm sagen?» meinte Mutsch wieder. «Ich, Baldi, lade mir das nicht auf die Seele. Und du, antworte mir aufrichtig, würdest du dich nicht schämen?»
Diese völlig ungewöhnliche Anrede zeugte davon, daß sie außer sich war, während das Ächzen des Bettes, auf dem er sich unruhig wälzte, den quälenden Zwiespalt in seinem Inneren wiedergab. Ich wollte schon ganz und gar verzweifeln, als erneut sein vorsichtiges Flüstern vernehmbar wurde.
»Ich glaube, ich weiß, wie wir das machen. Wir werden es so einrichten, daß er sich langsam und ohne Gewalt selber aufklärt. Ich besorge ihm ...»
Die letzten Worte flüsterte er ihr leider offenbar ins Ohr. Vor Ungeduld konnte ich nicht einschlafen. Am nächsten Morgen ließ sich Paps zum Frühstück nieder, mit dem ich mir besonders Mühe gegeben hatte, und während Mutsch eifrig den Ofen heizte, obwohl wir wenig später alle weggehen mußten, patschte er mir ungewöhnlich freundschaftlich auf die Schulter und stellte eine ebenso ungewöhnlich leutselige Frage.
«Na, wie steht’s Vilém ...?»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen, Paps«, antwortete ich aufgeregt.
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