Er hielt einen Moment inne, fuhr dann aber doch fort.
«Ich denke, in absehbarer Zeit erwartet dich das Ende der Schule, was auch den Beginn des praktischen Lebens bedeutet. Es ist also an der Zeit, daß du mehr über das Geheimnis des Lebens erfährst.»
Wider Willen lief ich rot an, und Paps wechselte augenblicklich das Gesprächsthema.
«Übrigens, es brennt nicht. Hast du alle Aufgaben gemacht, mein Junge?»
«Ja, Paps», stieß ich hastig hervor, «aber bitte, ich hätte dieses Geheimnis so gern gekannt ...!»
Forschend musterte er mich, beruhigte sich dann aber wieder.
«Na schön, schön ... wenn du gut lernst, bekommst du von uns etwas zu Weihnachten, was dich bestimmt sehr, sehr interessieren wird!»
Ich bin nie ein schlechter Schüler gewesen. Was blieb mir auch, wo ich als einziger aus der Klasse weder Techtelmechtel mit Mädchen noch Fernsehen hatte, als zu lernen, zu beten und zu lesen, zumeist Paps’ Ereiferungen gegen Unrechtmäßigkeiten auf dieser Welt, die Mutsch an jedem Freitag verbrannte, damit sie uns bei einer zufälligen Haussuchung nicht in Schwierigkeiten brachten. Doch weder zuvor noch später habe ich je solche schulischen Triumphe gefeiert wie vom Oktober bis zum Dezember jenes Jahres. Endlich nahte der ersehnte Heiligabend heran. Wenn meine Eltern auch schon zugaben, daß nicht der Storch die Kinder bringe, so blieben sie dagegen desto zäher bei ihrer Behauptung, daß die Geschenke vom Christkind kämen. Das lag nur auf der Hand, denn die Verleugnung des Storches brachte sie nicht in Konflikt mit der Glaubenslehre, die sie trotz der Mißachtung von Kirche nach wie vor anerkannten. Obwohl ich mit der Zeit an Gott zweifelte, seit dem Augenblick, da ich meine gesamte Habe an Murmeln vergebens dem Klingelbeutel in der Sankt-Nikolaus-Kirche geopfert hatte, damit er mir Tante Eliška zur Frau gebe, wagte ich ihnen das nie einzugestehen. Ich befürchtete zu Recht, dann im Handumdrehen ein Waisenkind zu werden. Nur einmal, ich war vielleicht zwölf, schlich ich mich in die Diele und hielt das Auge an das Schlüsselloch der Guten Stube, um zu sehen, wie die Engel den Baum schmückten. Da gellte hinter mir Mutschs entsetzter Aufschrei.
«Er guckt dir zu!»
Und aus dem Zimmer polterte eine vertraute Stimme zurück.
«Dann hau ihm halt eine runter!»
Da Paps jedoch zu jener Zeit regelmäßig seine Spaziergänge unternahm, auf denen er nach immer neuen Unrechtmäßigkeiten für seine Entrüstungen Ausschau hielt, glaubte ich trotz meiner Zweifel noch ein paar Jahre, der beleidigte HErr habe in seiner Stimme gegrollt. Wieder saß ich damals also, wie dann jedes Mal seit jenem Ereignis, den ganzen Tag in der Küche, las Weihnachtsmärchen und fragte, um keinen Verdacht zu erregen, alle Augenblicke Mutsch, wann es denn klingele. Endlich hörte ich Paps’ leisen, mit den Jahren immer lauter werdenden Schritt, je mehr ihn seine erschlafften Muskeln daran hinderten, auf Zehenspitzen zu gehen, und schon tönte durch die Wohnung das Bimmeln des Glöckchens, welches das ganze Jahr über neben dem Weihnachtsbaumschmuck und der Krippe in dem alten Klappbett versteckt lag. Unter dem leuchtenden Weihnachtsbaum, wo ich bisher Jahr für Jahr frisch gewaschene Taschentücher oder neu gestopfte Socken vorgefunden hatte, lag diesmal ein rätselhaftes Päckchen, in dem ich beim ersten Hinsehen ein Buch für Erwachsene erahnte. Vor Aufregung vergaß ich die Worte der Weihnachtslieder und erntete dafür Mutschs ernste Warnung. Endlich hatten wir auch die ‹Stille Nacht› abgesungen, und ich stürzte mich ungeduldig auf mein Geschenk. Ich hatte mich nicht getäuscht! Es war das Buch ‹Die Vermehrung der Pilze›, das mir endlich das Tor zur Erkenntnis aufstieß. Noch heute, nach so vielen Jahren, erinnere ich mich an den Wortlaut des ersten Absatzes.
«Die Vermehrung der Pilze geschieht entweder auf ungeschlechtlichem Wege, wobei sich der einzellige Keim in ein neues Pilzgeflecht (Myzelium) teilt, oder auf geschlechtlichem Wege, mittels Vereinigung zweier Geschlechtszellen (Gameten).»
Mehr durfte ich an diesem Abend nicht lesen, denn meine Eltern befürchteten, meine Phantasie könne durch eine Überdosis an Informationen belastet werden. Zu meinem Pech bekam ich tags drauf Ziegenpeter, was Mutsch noch lange als Strafe Gottes ansah. Erst zu Frühlingsanfang, als ich ihnen hochheilig versprach, nie wieder daran zu erkranken, durfte ich die Lektüre fortsetzen. Der Plan meiner Aufklärung hatte sich durch den Mumps beträchtlich verlangsamt, so daß ich vom Sommerferienlager, aus dem die letzten beiden Mitschüler ihre erste Liebeserfahrung mit Küchenfrauen heimbrachten, unter Aufsicht der Eltern, die am Rande des Lagers ihr Zelt aufgeschlagen hatten, nur mit einem großen Beutel getrockneter Pilze wiederkam. Erst als die Eltern, die dreimal täglich meine Temperatur, mein Gewicht und meine Größe notierten, schließlich feststellten, daß mein physisches und seelisches Gleichgewicht nicht meßbar gestört worden war, setzten sie die Durchführung der weiteren Etappen von Paps’ Vorhaben bereits gelassener fort. Bis zum Schulabschluß wußte ich ins Detail, wie sich Schmetterlinge, Fische und Kriechtiere vermehren, und die Soldatenuniform, die mich noch mehr in einen Mann verwandelte, machte sogar einen solchen Eindruck auf Mutsch, daß sie sich selber erkühnte, ohne Umschweife zu den Vögeln überzugehen. Leider trat genau zu dieser Zeit jener unselige Oberstleutnant an dem Schwanenseeteich auf den Plan. Obwohl er, wie ich meinte, die ganze Sache offensichtlich nur als pazifistische Demonstration gegen den Warschauer Pakt beurteilte, glaubte Mutsch in ihrem tödlichen Schreck, er durchschaue vielleicht deren wahren Sinn. Das erachtete sie als einen weiteren Fingerzeig von oben, und so betete sie den ganzen Heimweg über reumütig und flehte nächtens Paps an, die Sorge um mein weiteres Heranreifen ganz dem Allerhöchsten zu überlassen, der mich schon nach seinem Willen zurechtstutzen werde.
Damals sah ich mich genötigt, einen letzten Versuch auf eigene Faust zu unternehmen. Aus den Gesprächen meiner Waffengenossen, denen ich immer begieriger lauschte, und auch aus den Aufschriften an den Wänden der öffentlichen hygienischen Einrichtungen erriet ich, daß so etwas wie eine Organisation von Frauen existierte, die gegen geringes Entgelt weniger erfahrenen Werktätigen des anderen Geschlechts praktische Lektionen erteilten. Da dieselben mit einer besonderen Bezeichnung belegt wurden, die auch mein Paps in dem Gespräch mit Mutsch verwendet hatte, faßte ich Vertrauen zu ihnen. Diese Aufklärerinnen, so hieß es, stünden an späten Abendstunden vor verschiedenen gesellschaftlichen Zentren herum, und ansprechen dürfe sie auch derjenige, der ihnen nicht vorgestellt worden sei. Die Schwierigkeit bestand darin, daß ich abends ohne meine Eltern nicht aus dem Haus durfte. Wie ich die Burschen beneidete, die in normalen Einheiten Dienst taten und in den Kasernen wohnen durften, wo sie ab und zu Ausgang bis Mitternacht erhielten! In der größten Not kam mir jedoch ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Mein Vorgesetzter, Leutnant Lánsky, kriegte eines Tages von Hauptmann Kverková den Befehl, sie abends in ihrer Wohnung aufzusuchen, da der Divisionskommandeur plötzlich zu einer Stabsübung abgereist war. Weil der Leutnant ausgerechnet an diesem Tag Aufsicht im Magazin für ‹Halbliter› genannte Stiefel hatte, befahl er mir, den Dienst für ihn zu übernehmen, was meine Eltern ungern gestatten mußten. Zu seinem Pech handelte es sich jedoch nur um einen kurzen Probealarm. Oberst Kverek kam um neun Uhr nach Hause, und bereits um zehn erschien Leutnant Lánsky im Magazin, wonach er mich fortschickte, um ungestört den Selbstinfarkt begehen zu können.
Das konnte ich nicht ahnen und beschloß deshalb sogleich ohne Gewissensbisse, die unverhoffte Gelegenheit für mein Vorhaben zu nutzen. Im Gewaltmarsch klapperte ich ein paar Konzerthäuser und Vortragssäle ab, doch niemand stand davor herum. Eine momentane Eingebung brachte mich auf den Gedanken, daß auch Massenunterkünfte gesellschaftliche Zentren sein könnten. Vom Smetana-Theater aus steuerte ich deshalb auf das Hotel Esplanade zu. Als ich die bescheidene Grünanlage durchquerte, pochte mir das Herz vor Freude. Auf dem Gehsteig, unter einer hellerleuchteten Markise, stand wahrhaftig eine Frau im besten Alter, die nach Erscheinung und Kleidung meinen Vorstellungen entsprach. Ich kannte mich viel zu gut, um nicht zu wissen, daß ich nie mehr den Mut fände, wenn ich zögerte. Ich sah nach, ob meine Knöpfe alle geschlossen waren, holte Luft, brachte die paar Schritte, die mich von ihr trennten, rasch hinter mich, legte vorschriftsmäßig die Hand an den Rand der Militärmütze und sprach sie höflich an.
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