Er schob das Bier zurück, faltete die welken Hände über den Leib und sprach mit geschlossenen Augen seine Kunstandacht weiter, in der ihn niemand störte. „Schlüter, Schlüter! Dieser Gott, dieser Spitzbube! Hat mir mein Herz gestohlen, die eine Hälfte; die andere hat Beethoven. Dja . . . Habt Ihr denn keine Drahtkommode? Spiel Beethoven, Nuschke! Die Neunte! Die Herrliche . . . Die Pathétique, was du willst, nur Beethoven! Meine Seele dürstet. Hab mich geärgert über einen Hundsfott von Professor. Dja. Handelt sechs Dreier ab, dieser Krämer. Die Welt ist voller Lumpen.“
Nuschke sagte nichts, aber plötzlich blies er mit den Lippen „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“, so wunderschön, dass alle ergriffen lauschten.
„Gut, gut, mein Sohn,“ liess sich Walzmann wieder hören. „Ausgezeichnet, aber etwas eintönig dein Klavier.“ Er gluckte ein kurzes Lachen herunter. „Könntest als Solist gehen. Bleib in der Übung, bilde dich aus. Wenn deine Opern nicht aufgeführt werden, hast du doch ein Handwerk. So war’s mit mir. Träumte von einem Tempel aus Marmor. Sitz jetzt im Müllkasten. Kinder, man muss kriechen, man muss kriechen! Dann kommt man zur Höhe. Wer aufrecht steht, ist ein Rebell. Dja! Ein Anmassling, ein Stolzling, ein Kümmerling, ein Krümelsucher, ein nichtsnutziger Strassenspatz. Dja. Futterneid, nichts als Futterneid! Jawohl, meine lieben Zigeuner. Der Kampf um die Krippe. Die Bauchrutscher siegen . . . Kommt, kommt und seht Euch meinen Goethe an. Ausgeschlossen von der Konkurrenz, das Mass stimmte nicht. Herrlich, himmlisch! Ein Denkmalkomitee aus Sardellenhändlern. Als ob man Jupiter nach Zollen messen könnte! Nicht nach Metern, sondern nach Meilen. Dja. Über die Toga sitzt der Frack zu Gericht. Jupiter flieht. Auf seinem Sockel steht Stadtrat Meyer. Der Tempel stürzt, die gute Stube wird zum Tribunal. Alt-Hellas sitzt auf der Rosinante, und der Droschkengaul zieht den Strassenkarren der Thebaner. ‚Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!‘ Dja. . . . Stand gestern beim Mondschein vor Schlüter, hielt Zwiesprache mit ihm. Kam mir wie ein richtiger Seifensieder vor, schlich beschämt weiter. Sah dann seine Totenmasken am Zeughaus, hatte eine Vision. Lacht nicht, Kinder, ich war nüchtern! Die Ruhmlosen starben und sandten die Anklagen zum Himmel. Verflucht, dieser Skandal! Brechende Augen und Flüche. Sterbesenfzer, Jammern nach einem Labetrunk.“
Plötzlich unterbrach er sich und blickte auf Kempen. „So gib mir doch etwas zu trinken, Hermann. Ja, denkst du vielleicht —?“ Wiederholt hatte er nach dem Glas mit Wasser gegriffen, das er aber jedesmal wieder von sich schob, wie jemand, der zwischen zwei Dingen zu wählen hat. „Ich verstehe dich nicht, mein Junge, die Arbeit läuft doch nicht fort, nein,“ sagte er dann mit Milde in seiner Stimme. „Übermorgen ist auch ein Tag. Was habe ich dir denn getan? Gönn mir doch den Schluck.“ Und ohne erst die neue Einladung abzuwarten, holte er sich das Bier heran und trank den übrigen zu.
Schon der erste Tropfen Alkohol warf ihn um und kehrte den andern in ihm hervor, der nach Betäubung verlangte. Aber noch hatte er sich in der Gewalt. „Nein, nichts mehr.“ Er verdeckte mit der Hand das leere Glas, das Lorensen ihm aufs neue füllen wollte. „Einen Schluck noch, meinetwegen.“ Die Reue, nicht festgeblieben zu sein, packte ihn bereits, denn wochenlang trank er nur Wasser und kalten Kaffee, den er sich selbst in einer riesigen Kanne braute.
Kempen riss Lorensen die Flasche fort, aber schon fühlte Walzmann immer mehr die Schwäche, die ihn am seidenen Faden zog. Sein Mut sank zum Eigensinn, der ihn rauhbeinig stimmte. „Kempen, mein Junge, dankst du mir so? Wer hat dir was beigebracht? Ich, ich, Peter Walzmann, der Prolet, der Lohnschinder, der Dachspatz, der den Grossen etwas auf die Köpfe macht. Das ist mein Trost, meine Freude, dass ich wenigstens wegfliegen kann, wenn ich will . . . Jungs, jetzt wollen wir lustig sein. Ins Nirwana hinein. Hier, holt Bier, holt Kognak, einen mit drei Sternen. Lasst die Kunst leben, die heilige, edle Kunst, die Trösterin der Armen und Bedrückten. Die Göttliche, die Ewige, die Eine! Denn es gibt nicht die Kunst, sondern nur eine. Das ist’s, was die Banausen alles vergessen, die alles rubrizieren möchten. Bleibt ihr treu, dieser Einen, die uns alle umschlingt mit ihren weissen Armen. Meidet den Schmutz, blickt immer nach oben, wo die Reinheit den Erdendunst verzehrt. Prosit, prosit, meine Jungs, es lebe die Jugend, denn ihr gehört die Zukunft!“
Drei harte Taler waren auf den Tisch geflogen, denn er hatte den Lohn für die letzte Arbeit in der Tasche, ein nettes Sümmchen, das er aber noch nicht an den Mann hatte bringen können, weil die neue Bestellung so plötzlich gekommen war. Nun, wo ihm das Bier die Zunge gelöst hatte, sprach er nicht mehr in abgehackten Sätzen, sondern fliessend wie aus einem Buch. Gleichsam war Schwung in ihn gefahren, der ihn fortführte vom Alltag in den seligen Zustand der Vergessenheit. Er fand bilderreiche Worte, stieg und sank in seiner Empfindung, pfiff, stimmte ein Lied an und fühlte sich plötzlich jung unter diesen Strebenden, die, eine vergnügte Nacht vor sich sehend, die Lobeshymne auf ihn in jeder Tonart sangen.
„Es lebe der Meister, es lebe der Meister!“
Die Gläser klirrten, und Nuschke blies einen Posaunentusch dazu. Schmarr erhob sich und wechselte den Platz, denn der Gedanke, als Verwachsener neben einem ähnlichen zu sitzen, hatte ihn längst unruhig gestimmt. Diese beiden betrachteten sich immer mit feindlichen Blicken, ohne dass sie sich es merken liessen; gewissermassen wollte jeder der Schönere von ihnen sein, machte der eine den andern im stillen für das eigene Übel verantwortlich. Trotzdem kamen sie gut miteinander aus, sobald es sich um ihre Kunst handelte.
Blankert setzte sich neben Walzmann und berichtete ihm von dem Eigensinn des Kleinen, worauf sofort die Antwort kam: „Bravo, bravo, Schmarr! Lieber Kitscharbeit machen, Säulenheilige und Torherkulesse, wasserspeiende Frösche und Postamentgesindel. Nur nicht den personifizierten Stumpfsinn verewigen. Deine Kurrendejungs, prima fein! Brauchst du Geld, brauchst du Geld? Hier, mein Junge, zier dich nicht. Pumpen ist keine Sünde, nur das Wiedergeben.“
Er holte sein geblümtes Taschentuch hervor, in das er das Gold eingeknotet hatte, und schob ihm nun ein Zwanzigmarkstück hin, das aber Schmarr nicht nahm, obwohl seine grossen Augen darauf haften blieben. Erst als Walzmann zartfühlend ihm erklärte, dass er gern dafür einen Abguss seiner „Singenden Knaben“ haben möchte, streckte er den langen Arm aus und strich das Geld vergnügt ein. Gleich darauf zog ihn Lorensen beiseite und setzte ihm leise auseinander, dass ihm die Hälfte davon heute noch zufallen müsse als Abschlagszahlung für die Schuld. Kempen brauche davon nichts zu wissen, denn er halte ihn so knapp, dass er ihn selbst an den Groschen zum rasieren dreimal ermahnen müsse.
„Gut, gut,“ raunte Schmarr zurück und hielt in seiner Tasche das Goldstück krampfhaft fest. „Gehen wir nachher wechseln.“
Kempen dachte nicht daran, Kognak holen zu lassen, denn dann würde die ganze Gesellschaft sicher betrunken werden und den Skandal noch vergrössern; aber knickrig, wie er war, hatte er sich doch einen Taler angeeignet, während er das andre Geld dem Spender wieder zusteckte. Draussen war Frau Lemke mit Worten von ihm bestochen worden; sie kam herein, brachte Zigarren und frisches Bier und gebrauchte dabei die Ausrede, dass das andere Gewünschte nicht zu haben sei. Sofort sprang Walzmann auf, fasste sie unter und wollte sie mit Gewalt zum Platz nehmen bewegen. „Setz dich doch, mein Kind, sei vergnügt mit uns. Das Leben ist so kurz! Hast du nicht noch eine hübsche Tochter? Siehst du, ich feiere heute meinen Geburtstag.“
Das sagte er zehnmal im Jahre, trotzdem es nie wahr war. Sie lachte und wehrte sich, entsetzte sich dann aber aufs neue über diese Wirtschaft, die sie noch nie erlebt hatte. Sie müsse nun um etwas Ruhe bitten. Das Fräulein nebenan, das Fräulein!
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