Es ist damit nicht sehr verwunderlich, dass sich bei all den tatsächlichen oder auch nur gefühlten Problemlagen des persönlichen Bereichs viele nicht mit der Zukunft in einem breiteren und tieferen Aspekt beschäftigen möchten, sich mit vielfältigen Ausreden (siehe Abb. 5) aus der Verantwortung auch für die Zukunft nehmen wollen oder gar die Vergangenheit verklären und möglicherweise für die Parolen rückwärtsgewandter Gruppen oder auch verschwörungstheoretischer Propaganda aufgeschlossen sind.
Gerade die Anthropozän-Thematik erfordert aber wegen ihrer „Alles-hängt-mit-allemzusammen“-Komplexität eine Blickwinkel-Öffnung und Offenheit für ggf. auch unerwartete Zukunftsoptionen. Zukunftskompetenz sollte sehr früh, also auf alle Fälle im schulischen Unterricht angelegt werden. Schulische Bildung kann mit dem Thema Lösungen für die Zukunft im Anthropozän eine Stärkung der fundierenden psychischen Ressourcen Selbstwirksamkeit, Genussfähigkeit und Selbstakzeptanz, bei gleichzeitiger Entwicklung der zielbildenden physischen Ressourcen Achtsamkeit und Genussfähigkeit bewirken. Dies fördert nach Hunecke (2013) durchaus auch eine Sinnkonstruktion für ein persönliches Leben (vgl. auch Leinfelder 2018 für weitere Ausführungen).
Die Blickwinkel-Öffnung für die Zukunft muss allerdings eingeübt werden. Hierzu ist es sinnvoll, nicht nur über wahrscheinliche, also trendbasierte, prognostische Zukunftswege zu reflektieren, welche in der Regel nur einen „Business as usual“-Weg modulieren. Zusätzlich sollten mögliche Zukünfte 47 konzipiert werden, um daraus wünschbare Zukünfte abzuleiten. Letztere können auch durchaus sehr imaginative und visionäre Szenarien sein, um dann zu überlegen, ob es Pfade dorthin geben könnte.
Allerdings ergeben sich bei den wünschbaren Zukünften zwei Problemlagen:
a) Unter Solidaritäts-, Gerechtigkeits- und ökologischen Aspekten ist nicht alles Wünschbare sinnvoll, also erdsystemverträglich, solidarisch und gerecht. Das Möglichkeitsfenster sollte insbesondere durch die Planetarischen Grenzen und die vereinbarten Nachhaltigkeitsziele der UN, bei denen alle drei Aspekte verknüpft sind (UNSDGs 2015) aufgespannt werden. Es bleibt aber immer noch sehr viel Raum für verschiedenste Pfadmöglichkeiten.
b) Die Wunschforschung zeigt auf, dass Unbekanntes schwer wünschbar ist (siehe Helbig 2013, Fischer 2016). Um sich etwas wünschen zu können, muss dies vorstellbar sein. Dazu sollten Teilbereiche wünschbarer Szenarien einerseits ausprobiert werden, andererseits auch in ein großes Gesamtbild einfügbar sein. Dazu muss dieses narrativ erzählt oder noch besser zumindest in einer die Vorstellung anregenden Weise visualisiert werden, wozu etwa einfache Strichzeichungen oder Modelle genügen können (siehe Abschnitt 3.2.2).
Box 4: Zukunftspfade – ein Selbstgespräch im Anthropozän 48
Wie könnte ein Weg in die Zukunft nur aussehen?
Fast alle sind sich ja einig, dass der Pfad eines weiter wie bisher nicht funktioniert, Umweltkrise, soziale Ungerechtigkeiten, Ressourcenausbeutung, das geht nicht mehr lange gut. Also ja, das müssen wir ändern, bloß wie? Vielleicht sollten wir einfach dort reagieren, wo die Probleme schon ziemlich weh tun? Etwa indem wir Küstendämme höher bauen, ganze Gebiete aufgeben, bevor das Meer immer wieder über uns kommt? Oder Müll, CO 2und sonstige Verschmutzungen versteuern, weniger Essen wegwerfen, neue, an den Klimawandel angepasste Züchtungen kreieren? Dies wären einige Beispiele eines reaktiven Pfads in die Zukunft.
Wir könnten aber auch gleich ein Leben des „weniger ist mehr“ pflegen. Nur lokale und saisonale Lebensmittel verwenden? Viel weniger Fleisch verzehren oder gleich vegan werden? Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel, die wir dann auch ausbauen müssten, statt Auto? Überhaupt viel weniger produzieren und transportieren? Diesen suffizienten Pfad finden viele gut, für andere ist er aber nur schwer vorstellbar.
Oder können wir nicht einfach von der Natur lernen? Uns „bioadaptieren“, alles wiederverwenden, Kreislaufwirtschaft betreiben? Manche sehen hier bereits eine neue, wachstumsstarke Überflussgesellschaft kommen. Alle Ressourcen werden dann aber immer wieder verwendet, die Energie, um sie immer wieder zu zerlegen und neu zusammenzubauen, stammt dann natürlich nicht aus fossilen Quellen, Verpackungen sind kompostierbar oder gar essbar. Apropos Essen, wie wäre es für Nicht-Vegetarier mit Insekten als Nahrung? Gesund, schmackhaft, leicht züchtbar, sehr kleiner ökologischer Fußabdruck, und zwei Milliarden Menschen essen sie. Ja, unsere kulturelle westliche Prägung macht dies für viele schwer vorstellbar. Aber insgesamt hat dieser bioadaptive Pfad – wenn wir nicht gleich alle Insekten essen müssten, sondern diese vielleicht eher in der Fischzucht verwenden – viele Befürworter. Auch die Verkehrswende gehört dazu. Elektromobilität in Verbindung mit CarSharing, und natürlich insbesondere auch Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel.
Und noch einen Pfad kann ich mir vorstellen, den Hightech-Pfad . Die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen wird in Zukunft in Städten leben. Warum lassen wir dann nicht die Natur viel stärker in Ruhe und produzieren alles, was wir brauchen, in den Städten, auch die Nahrung, etwa in Farmhochhäusern, den „Farmscrapers“. Also Urban High Tech. Das Fleisch stammt aus dem Labor, kein Tier muss dann dafür sterben. Die erneuerbare Energie wird durch Fensterscheiben generiert. Die Verkehrsmittel laufen autonom. Drohnen und die wenigen Flugzeuge fliegen mit Solarstrom, größere mit Algensprit. Übers Land und durch die Ozeane fahren in Vakuumröhren autonome Magnetbahnen, die kaum Energie brauchen und diese beim Abbremsen zu einem Gutteil wieder rückgewinnen. Brave new world! Ach du liebe Zeit! So manches hier kann ich mir gut vorstellen, und zwar aus den verschiedensten Zukunftspfaden. Anderes aber eher gar nicht. Ich bin mir sicher, anderen geht es ähnlich, aber vermutlich wollen auch etliche das, was ich mir nicht vorstellen kann, zumindest jetzt noch nicht. Aber andererseits, tut gut, mal so radikal über diese verschiedenen Pfade nachzudenken. Okay, ich muss mich ja nicht für einen Pfad entscheiden, da schließt sich doch nicht alles gegenseitig aus. Wir könnten ja einfach mal verschiedene „Zukünfte“ mit kleinen Versuchen und Prototypen ausprobieren. Wenn dies viele machen, könnten wir doch geeignete, gemischte Lösungen zusammenstellen – gemeinsam, uns gegenseitig achtend, ohne Rechthaberei und „geht gar nicht“-Argumentation. Einfach mal loslegen, falls notwendig passen wir halt immer wieder an, aber loslegen müssen wir jetzt. Wir können nicht noch Jahrzehnte nach dem einzig richtigen Weg suchen, den gibt es nämlich sowieso nicht. Ich sehe schon, das Anthropozän fordert uns alle heraus – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, zivilgesellschaftliche Gruppen und jeden einzelnen – Verantwortung zu übernehmen. Aber nicht nur das, wir beteiligen uns einfach wissensbasiert, gleichsam gärtnerisch an der Zukunftsgestaltung! Das wird klasse. Und ich bin mir sicher, dass wir damit uns und allen, die nach uns kommen, ein freies, selbst gestaltbares, zukunftsfähiges und vor allem lebenswertes und kreatives Zeitalter ermöglichen. Willkommen im Anthropozän – jetzt geht’s los!
Zur Erarbeitung wünschbarer Zukünfte ist die Anwendung der Design-Thinking-Methode in modifizierter Weise ebenfalls sinnvoll. So sollten mehrere auch optional wünschbare Zukunftswege erarbeitet werden, um diese auf ökologische, soziale und ethische Kompatibilität zu testen. Wünschbare Zukünfte sind am besten veranschaulichbar, wenn sie in Form idealtypischer Zukünfte „durchdekliniert“ werden, was im Design-Thinking-Ansatz dem Definieren verschiedener Sichtweisen, dazugehöriger Ideen und der Aufstellung verschiedener Prototypen entspricht. Diese sind dann zu testen, was exemplarisch mit Einzelbeispielen aus verschiedenen Lebensweltzukünften geschehen kann. In mehreren iterativen Schleifen können dann innerhalb der verschiedenen Zukunftsszenarien auch Mischungen als Handlungs-Portfolios zusammengestellt werden und durch „backcasting“ einzelne Schritte zum Erreichen eines gesellschaftlich vereinbarten Wunschszenarios geplant werden (Robinson 1988, 2003; Dreborg 1996). In diesem Sinne erstellte der Verfasser vier idealtypische, potenziell wünschbare Zukünfte, denen er ein fünftes, unerwünschtes als Business-as-usual-Szenario gegenüberstellte. Der Ansatz ist, aus folgendem Dilemma herauszufinden: Zwar sind sich die meisten gesellschaftlichen Gruppen grundsätzlich einig, dass ein „weiter-wie-bisher“ nicht möglich erscheint, allerdings spaltet die Frage nach dem richtigen Zukunftsweg nicht nur die Gesellschaft, sondern in Teilen auch die Wissenschaften. Die fünf idealtypischen Zukunftsszenarien sollen also gleichermaßen Diskurs über verschiedene Lösungswege ermöglichen, aber auch einen kooperativen Konsensusprozess sowie daran anschließend eine gemeinsam getragene Erstellung gemischter, bei Bedarf immer wieder modifizierbarer („liquider“) Lösungs-Portfolios aus den verschiedenen Szenarien bzw. den Pfaden dorthin zu ermöglichen. Dazu ist es sinnvoll, die einzelnen Lebensweltbereiche, darunter Energie, Wohnen, Arbeiten, Wirtschaften, Ernährung, Gesundheit, Mobilität in diesem Sinne entlang solcher Szenarien in die Zukunft zu denken. Box 4sowie Abb. 13, 14skizzieren derartige mögliche idealtypischen Zukünfte für einige dieser Bereiche. (Näheres zum Konzept, den Beispielen sowie zu weiteren Literaturangaben siehe Leinfelder 2014a, 2016b, 2018, 2020b.) Nachfolgend einige Ideen, wie Lebenswelt-Zukünfte im Unterricht erarbeitet werden können:
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