„Ja, das ist der Hintergrund, Fräulein Martha. Sehen Sie nur, wie er das geschildert hat? Die engen Zeilen, wo man die gegenüberliegenden Häuser mit den Armen erreichen kann. Hier in unserer Stadt gibt es auch derartige Gässchen. Unten am Rik. Und nun beginnen die Glocken zu wimmern. Hören Sie dies Wehklagen? So haben sie neulich auch bei uns geheult, als der Speicher vom Dampfmüller Jarchow abbrannte. Sie erinnern sich doch? Und nun sehen Sie das niederländische Volk — die Bürger, wie es wimmelt, wie es sich drängt, stösst und schiebt. Laut, mit spitzen Worten hetzt sie der Schreiber. Aber pfui, sie schleichen dennoch zur Seite. Und warum? Weil eine lumpige spanische Scharwache durch sie hindurch schreitet — feige, spitzbärtige Spione mit riesigen Pumphosen. Bemerken Sie nur, Fräulein Martha, wie argwöhnische Blicke die Tyrannenknechte auf die Handwerker heften. Und wirklich, die Furcht ist gross, alles schweigt, alles will in die Häuser kriechen, um sich zu verstecken, — da, — im letzten Moment, hören Sie diesen gellenden Schrei? Ja, das ist sie, das ist das wahnsinnig gewordene Klärchen, das alles vergisst, das in fliegenden Haaren auf die Strasse stürzt, schreiend: „Egmont — soll sterben, Egmont, der euch alles war, rettet Egmont —“
„Rettet Egmont —“ schrie Gust ganz laut, indem er mit rollenden Augen und vorgeworfenen Armen aufsprang. „Rettet Egmont.“
Als er vom Schall seiner Worte geweckt wurde und nun linkisch und entsetzt eine entschuldigende Verbeugung zu machen gedachte, da bemerkte er etwas Seltsames.
Mit überfliessenden Augen lehnte Martha auf ihrem Sofa und schluchzte laut und leidenschaftlich vor sich hin, während ihre Hand sich fest in die Lehne gekrampft hatte.
„Um Gottes willen, Ihnen fehlt doch nichts?“
„Nein — nein, — aber wie schön — wie wunderschön Sie das vortragen können.“
„O, nicht doch,“ wehrte Gust mit klopfendem Herzen ab, denn der Anblick des weinenden Mädchens lähmte ihn beinahe.
Aber durch seine Sinne lärmte dennoch laut der Gedanke: Wie weich, wie engelsgut und liebevoll diese feuchten, braunen Augen blicken konnten. O, die Stunden mit ihr mussten Himmelsseligkeiten werden.
„Ja, und übermorgen,“ fuhr sie fort, ziehn wir in unser kleines Häuschen draussen am Bodden. Und wenn Sie erst Student sind, dann sollen Sie mir dort weiter all das Schöne erzählen, immer mehr, und immer weiter. Nicht wahr? Sie wollen?“
Sie reichte ihm die Hand.
Wohl spürte er eine zuckende Wärme, aber ob er die weissen Finger wirklich wieder gedrückt hatte, das wusste er im nächsten Moment nicht mehr.
Wie kam das?
Er befand sich plötzlich auf der Strasse, ohne Betti, die er vergessen, und laut eine Siegeshymne vor sich hin singend, eilte er in wilden Sprüngen dem Flusse zu, an dem seine Wohnung lag.
Seine Wangen erschauerten, und immer höher und heiliger tönten seine Siegesweisen.
Dasjenige aber, was er unverrückbar vor sich sah, das war der grünumgebene Bodden, um dessen Wiesen die Wasser leise schlugen und plätscherten. Oben aber auf den Strandsteinen, da hoben sich zwei Gestalten scharf von dem sonnenhellen Himmel ab. Das waren Martha und er.
Ja, das sind sie, und sie spähen beide dorthin, wo die Flut am fernsten Rande sich golden färbt. Ein grosser, breiter, goldener Strom, der sich ins Unendliche ergiesst.
So blinkt die Zukunft herüber.
Leuchtend, tausendfarbig, ohne Grenzen. Und alles sein, alles sein. O, das fasst das kleine Herz nicht, stille, stille, Sieg — Sieg.
Eine Tür fliegt ins Schloss. Mit dröhnendem Nachklang. Durch die Korridore hallt es weiter.
Krach — bumm.
Dann bängliche Stille.
Zeisig ist da. Professor Zeisig, der Löwe des Gymnasiums, vor dessen Brüllen Rebellenklassen erzittert haben; der sich zum Fenster hinauslehnt, um von da Prüfungsarbeiten zu diktieren. Und hinter ihm regt sich nichts. — Alles sitzt wie gebannt. Kein Blick fällt aus das Heft des Nachbarn. Denn das Brüllen des beleidigten Löwen zerreisst Nerven, wirkt tödlich.
„Setzen.“
Man hat es nicht nötig, aber vor Zeisig erhebt man sich. Auch der Direktor erweist Zeisig diese Ehre; ob aus Courtoisie, denn er ist ein Höfling, oder aus Respekt, ist nicht festzustellen.
„Setzen.“
Ein unterdrücktes Atmen, die Entscheidung ist nahe.
„Ich habe Ihnen das Thema des Examenaufsatzes mitzuteilen,“ beginnt Zeisig, während er, auf dem Katheder stehend, seine vierzehn Abiturienten mit einem seiner glühenden Blicke überfliegt. „Hum —“ dieses Räuspern gilt als ein Zeichen der Missbilligung. Und bald wird auch klar, was den Unwillen des Löwen so sehr erregt.
Heftig fährt er sich durch den kurzen braunroten Kinnbart.
„Hum — man hat sich wieder für ein historisches Thema entschieden, das Sie aus der Lektüre des Cicero kennen und dem die Verschwörung des Catilina zugrunde liegt. Der Titel lautet: ‚Wem erteilen wir mit Recht den Namen ‚Vater des Vaterlandes‘?‘ Es steht Ihnen frei, sich eng an die römischen Vorgänge zu halten; für die anderen jedoch, die sich gern freier bewegen — hum, hum — habe ich es ausgewirkt, dass sie den Rahmen ihrer Ausarbeitung nach Herzenslust über die ganze Historie ausspannen dürfen. — So — drei Stunden haben Sie Zeit. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass keiner meiner Schüler so ehrlos ist — aber ich möchte Sie in dieser Stunde nicht beschämen. Gehn Sie freudig an die Arbeit, schreiben Sie ohne Erregung, ganz so, wie wenn Sie mir persönlich Ihre Ansichten über die römische Insurrektion Mitteilen wollten. — Anfangen!“
Wieder ein Aufatmen.
Mit einem lauten, scharrenden Geräusch setzt sich Zeisig, schlägt ein Buch auf und neigt seine Löwenmähne, als wenn er unbekümmert und teilnahmslos lesen wolle.
Aber nur einen kurzen Moment.
Dann suchen seine düsteren Augen sofort die bleichen, bekannten Gesichter seiner Schüler auf, und es ist, als wenn er jeden einzelnen mit einer gewissen Herzensangst studiere, ob er der strengen Forderung auch gewachsen wäre.
Sorgenvoll gleiten seine Blicke.
Da — der mittelmässige Stark, — der ernsthafte Malte Zingst, — der unberechenbare Gust Petersen.
Ja, ja, das ist der interessanteste seiner Schüler, aber auch sein unsicherster Kantonist.
„Hum — hum,“ brüllt Zeisig, um sich ein wenig Luft zu machen.
Dann wird es still — ganz, ganz still.
Die Blätter rauschen, die Federn knistern, manchmal scharrt ein Fuss auf dem Estrich.
Allmählich röten sich die Gesichter der Schreibenden, heftiger werden die Seiten umgeschlagen, es richtet sich zuweilen auch ein Auge bang und zweifelnd auf den Lehrer.
Dann springt Zeisig auf und schreitet mächtig auf das flehende Augenpaar zu. Als ob er strafen oder Hilfe bringen wolle.
„Hum — hum — schreiben Sie vollkommen ruhig.“
Von alledem sieht und hört Gust Petersen nichts. In seine Seele ist es eingezogen, wie Feiertagsfreude.
Welch eine schöne, bunte, farbige Aufgabe. Und wie gern, wie leidenschaftlich gern weilt er nicht in den engen Gassen des alten Rom.
Mit begeisterten, traumglühenden Blicken starrt er auf seine weissen Blätter hinab, dann hebt er das rotbuschige Haupt, kaut an seinem Federhalter, und vernimmt für einen Moment das Summen der Fliegen, die an der weissen Decke spielen.
Gar feierlich still ist es heute in der Klasse. Als ob alle den bitteren Ernst der Stunde fühlen.
Den bitteren Ernst?
Was ist das? Ein heftiger Schmerz beginnt durch Gusts Herz zu wühlen. Denn ganz unvermittelt muss er an jene Familienberatung in seinem Heim denken, an das Schluchzen der Mutter, an Tante Bettis Lebensplan, an die schonenden Verbeugungen des alten Junggesellen, und vor allen Dingen an das graue Gespenst der Armut, dessen rauschende Schleppe ja die Treppen des alten Schifferhäuschens fegen soll.
Читать дальше