Die Mutter durfte das Kind nicht lang in den Armen halten. Um sie herum schnelle Schritte, ernste Mienen, gedämpfte Gespräche; zuckendes Blaulicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Eilig wurde ein Inkubator vorbereitet, eine Box, in der das Kind unter bestmöglichen Bedingungen nach Reutlingen in die Kinderklinik transportiert werden konnte. Die erschütterte Mutter blieb fassungslos zurück und bekam zunächst wenig Auskunft über den Zustand ihres Babys. Auf wiederholtes inständiges, drängendes Fragen nach ihrem Kind sagte schließlich jemand: »Es sieht nicht rosig aus.«
Simone wurde zwei Tage später in die Kinderklinik der Universität Tübingen verlegt. Dort traf das kleine Menschlein schon sterbend ein. Die Chirurgen öffneten kurzerhand den Brustkorb, denn die schwere Atemnot des Kindes deutete auf einen Verdrängungsprozess hin, der die Lungenflügel einklemmte und zusammendrückte. Viel Zeit blieb nicht. Zwar war kein Tumor vorhanden, dafür aber Luft, die – laienhaft ausgedrückt – aus einem Riss in der Lunge in den Brustraum strömte. Die Ärzte sprachen von einem Pneumothorax. Das Kind wollte durch das Schreien Atem schöpfen und bekam doch nicht genügend Luft in die Lungen, weil die Luft durch den Spalt wieder in den Brustraum strömte. Was die Ärzte machen konnten, taten sie so schnell wie möglich, um das Leben von Simone zu retten.
Simones Mutter hatte beschlossen, Gott zu vertrauen, dass sein Plan für Simone gut war – wie auch immer der aussehen würde. Obwohl sie dunkle Stunden durchlebte und Zweifel an ihr nagten, betete sie für Simone genauso, wie sie es auch für Christine getan hatte: dass sie eines Tages Gott und seinen Sohn Jesus Christus erkennen und lieben und ihm ihr Leben anvertrauen würde.
Täglich besuchten die Eltern ihre Tochter in der Tübinger Kinderklinik. Sie mussten hilflos mit ansehen, wie ihr Kind ums Leben kämpfte, und durften es nicht einmal berühren und liebkosen. Das war hart. Und kein Arzt konnte ihnen sagen, ob Simone überleben und wieder gesund werden würde. Daheim konnte es die dreieinhalb Jahre ältere Christine kaum erwarten, endlich Simone zu sehen.
»Simone darf nicht besucht werden!«, lasen die erschrockenen Eltern eines Tages an der Tür zum Kinderzimmer. Wegen einer schweren, ansteckenden Lungenentzündung war das Baby isoliert worden. Wieder eine niederschmetternde Nachricht, noch eine Lebensbedrohung für das kleine Kind. Den Eltern blieb nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren, zu beten, zu hoffen und zu bangen. Was kaum zu erwarten war, geschah: Simone überwand die Infektion und erholte sich langsam von ihrer schweren Erkrankung. Es lässt sich nicht einmal genau erklären, wie der Riss verheilte und die Atemluft endlich die Lungen füllte. Vermutlich verklebte die offene Stelle, und einwachsende Zellen heilten mit der Zeit den Schaden. Es war ein Wunder. Am 25. April war Simone geboren worden, am 29. Juni konnten die Eltern sie endlich nach Hause holen.
Beim Abschied meinte ein besorgter Arzt: »Sie müssen damit rechnen, dass Simone bleibende Schäden von dieser Erkrankung davongetragen hat. Die Sauerstoffversorgung des Gehirns war leider nicht immer gut.« Dies erfüllte die Eltern mit großer Sorge.
Versetzen wir uns in die Lage von Simone: Sie erlebte nach neun Monaten Leben ihre erste schmerzliche Ent-Bindung aus einem Raum der Geborgenheit und Sicherheit. Und anstatt von den Armen der Mutter aus ihre neue und fremde Umwelt betrachten zu können, brach plötzlich über sie eine unerwartet wilde, bedrohliche Welt herein. Im Gegensatz zu den Erwachsenen konnte sie nichts davon erzählen, wie sie in diesen Wochen gelitten, wie ungeborgen sie sich gefühlt hatte. Sie konnte niemandem sagen, welche Ängste sie durchlebt hatte, wie viele fremde Stimmen sie erschreckt, wie viele bedrohlich große Gesichter sich über sie gebeugt, welche Eingriffe ihr Schmerzen bereitet hatten. Da war nur ein stummer Schrei völliger Verlassenheit in ihr, der aus der Tiefe kam. Den hörte kein Mensch, nicht einmal sie selbst. Sie nahm einen verborgenen Riss mit in ihr Leben, von dessen Vorhandensein ihr nichts bewusst war.
Aber es gibt jemand, der stumme Schreie hört: ihr Schöpfer. Gott heilt auch die verborgenen Wunden. Hier scheint ein Grund zu liegen für eine enorme Stärke, für eine erstaunliche Willens-, Widerstands- und Schaffenskraft, die Simone in späteren Jahren an den Tag legen wird. Dazu kommen ihr der Pioniergeist und die Kreativität der Mutter und der Erfindergeist des Vaters zugute.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ] INHALT Über die Autorin Vorwort Prolog 1. Träume. Wünsche. Schmerzen. 2. Eine große Aufgabe 3. Eine große Herausforderung 4. Meer, Wind und neue Ufer 5. Leinen los! 6. Theologisches und linguistisches Studium 7. Afghanistan – grandioses Land, geschundenes Volk 8. Kabul – ein brodelnder Schmelztiegel 9. Die Sprachschule 10. Revolution mit Wörtern 11. Aufbruch in den Norden 12. Im Tal der Berufung 13. Daheim. Nicht nur im Eckhaus 14. Vom Dach der Welt 15. Lehren und Lernen unter dem Hindukusch 16. Eiseskälte und unsichere Zukunft 17. Gebrochene Flügel Nachwort von Pfarrer Harald Grimm Simone Beck: Ein Gedicht über die Größe Gottes – Eine Andacht zu Jesaja 40,12–31 Worte von Weggefährten Dank Anmerkungen
Herr,
ich danke dir dafür, dass du mich so wunderbar
und einzigartig gemacht hast!
Als ich gerade erst entstand, hast du mich schon gesehen.
Alle Tage meines Lebens
hast du in dein Buch geschrieben –
noch bevor einer von ihnen begann!
Wie überwältigend
sind deine Gedanken für mich,
o Gott,
es sind so unfassbar viele!
Sie sind zahlreicher als der Sand am Meer;
wollte ich sie alle zählen,
ich käme nie zum Ende!
Psalm 139,14.16-18 (HFA)
Das unauffällige, mehrgeschossige Eckhaus der Familie Beck liegt an einer breiten Straße und hat eine Doppelgarage mit einer großzügigen Auffahrt davor. Rechts von der Haustür rankt sich Efeu an der Mauer hoch, manchmal verdeckt es die Hausnummer. Da das Anwesen an der Straße liegt, hat mich die Stille und der weite Blick auf der Rückseite des Hauses überrascht: Sanft ansteigende Streuobstwiesen, ein kleiner Bach murmelt munter den Hang herunter, ein schmaler Weg schlängelt sich hinauf bis zum Hochplateau der Schwäbischen Alb.
Christine hatte sich sehr über die Ankunft ihrer kleinen Schwester gefreut. Immer wieder schlich sie zu dem Stubenwagen, in dem Simone meistens schlief. Endlich hatte sie jemand, mit dem sie bald richtig spielen und sprechen konnte. Die Erwachsenen waren dazu nicht immer zu gebrauchen. Wenn sie mit der Mutter einkaufen ging, durfte sie sich meistens etwas aussuchen. So war es auch bald nach dem Einzug von Simone. Christine wählte diesmal zehn bunte Kaugummikugeln aus, die sie in den Einkaufswagen legte. Zu Hause angekommen, lief sie gleich zu ihrem Schwesterchen und schob ihr eine leuchtend rote Kugel in den Mund. Simone freute sich sichtlich darüber. Deshalb opferte Christine alle ihre Kugeln. Als gerade das letzte Objekt der Freude im Mund des Babys verschwand, kam die Mutter ins Zimmer und war hell entsetzt. Simone konnte – glücklicherweise – noch nicht kauen, nur lutschen und schlucken. Und so kamen die Kugeln einige Zeit später auf natürliche Weise wieder ans Tageslicht.
Ein Problem hatte die mangelnde Durchblutung des Gehirns nach Simones Geburt verursacht: Sie hatte das Gebiet, das für das Verhältnis von Hunger und Sättigung zuständig ist, aus dem Gleichgewicht gebracht. Simones Gehirn meldete nicht: Du bist satt! Die Mutter musste diese Aufgabe übernehmen. Umgekehrt muss Simone immer unter einem Hungergefühl gelitten haben. Wie soll das ein Kind verstehen? Außerdem fand ein Kinderarzt heraus, dass Simone unter starken Kopfschmerzen litt, deren Auslöser eine starke Sehschwäche war. Simone war zäh und ausdauernd, wenn sie trotz ihrer Einschränkungen etwas erreichen wollte. Das zeigte sich auch beim Klettergerüst auf dem Spielplatz. Sie ruhte nicht, bis sie – nach vielen Anläufen – die Spitze erreicht hatte.
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