„Wie weit mag es noch sein bis nach Roskilde?“ fragte ich schließlich meinen kleinen Freund.
„Das ist schwer zu sagen, Nonni. Du weißt ja, Roskilde ist ungefähr dreißig Kilometer von Kopenhagen entfernt.“
„Das ist ein langer Weg, Valdemar. Ob wir vor dem Abend Roskilde wohl erreichen werden?“
„Das werden wir kaum, Nonni. Ich habe gehört, daß ein Erwachsener den Weg gut machen kann in einem Tage. Für uns geht es etwas langsamer, weil unsere Beine kürzer sind.“
Ich mußte lachen über den Einfall des kleinen Valdemar. Ich gab ihm aber recht und sagte: „Wenn wir nur doppelt so lange Beine hätten, Valdemar, dann würden wir bald in Roskilde sein. So aber brauchen wir sicher zehn Stunden von Kopenhagen bis dorthin.“
„Und wenn wir noch vorher zu Mittag essen müssen und dazu noch in allerlei Abenteuer geraten, wird es noch viel länger dauern.“
Nach einiger Zeit merkte ich, daß Valdemar nicht mehr so frisch voranging wie bisher.
„Bist du müde, Valdemar?“
„O ja, Nonni, und der eine Fuß beginnt mir wehe zu tun.“
„Das ist wohl eine Blase. Drückt dich vielleicht der Schuh?“
„Ja, ein wenig.“
„Dann mußt du gleich Salbe darauf tun, sonst fängst du an zu hinken.“
Wir bogen etwas vom Wege ab und setzten uns am Straßenrand ins Gras, mitten unter die duftenden wilden Blumen.
Ich nahm aus meinem Rucksack das kleine Gefäß, das die Frau Professor hineingelegt hatte. Es war eine weiße Salbe darin.
Dann half ich Valdemar, seinen wehen Fuß einzureiben.
„Wie geht es jetzt mit dem Fuß, Valdemar?“ fragte ich nach einer Weile.
„Gut! Ich spüre jetzt nichts mehr.“
Die Salbe hatte Wunder gewirkt. Nun ging es weiter und weiter. Immer neue Landschaften, neue Blumen, neue Felder und Wäldchen und neue Bauernhöfe links und rechts. Es war prächtig!
„Nonni, ich spüre argen Hunger“, jammerte der kleine Valdemar nach kurzer Zeit wieder.
„Ich auch, Valdemar“, bestätigte ich ihm sogleich, „vielleicht könnten wir ein Butterbrot essen? Für das Mittagessen ist es wohl noch zu früh.“
„Du hast recht, Nonni“, sagte Valdemar, ging an den Wegrand und setzte sich ins Gras.
Nun holte sich ein jeder von uns ein Butterbrot aus seinem Rucksack und verzehrte es mit einer wahren Andacht.
Neu gestärkt standen wir wieder auf und gingen noch eine gute Strecke Weges, bis wir an ein schattiges Wäldchen kamen. Ein Dorf lag daneben, und am Rande des Wäldchens fanden wir einen Brunnen.
Hier entschlossen wir uns, Rast zu machen und zu Mittag zu essen.
Wir gingen in das Wäldchen hinein und fanden dort einen großen Baumstamm, der am Boden lag. Dieser Baumstamm diente uns als Stuhl, Tisch und Kochherd zugleich.
Es war ein wundervolles Plätzchen. Die laubreichen Äste, die über unsern Köpfen eine hohe, prachtvolle Wölbung bildeten, verschafften uns eine willkommene Kühlung. Oben in den Zweigen saßen eine Menge kleiner Sänger und Musikanten und gaben uns in liebenswürdigster Weise ein Konzert.
„Wie groß und schön ist unser ,Speisesaal‘, Nonni!“ sagte der Kleine.
„Ja, er ist königlich, Valdemar. Oben die singenden und musizierenden Vögel, und rund um uns im grünen Grase die duftenden Blumen.“
Wir fingen nun an, alles für unser Mittagsmahl herzurichten. Unser Kochtopf mit der brennenden Spirituslampe wurde auf den Baumstamm gestellt.
Das Hauptgericht wurde hineingetan und mit Sorgfalt überwacht.
Valdemar lief mit unsern beiden leeren Bechern an den kleinen Brunnen am Waldrand. Er füllte sie dort und brachte sie zurück voll vom köstlichsten Labetrunk, den es auf der ganzen Welt überhaupt gibt.
Während wir bei „Tisch“ saßen, kamen einige Kinder aus dem Dorfe zu uns her und schauten uns zu. Wir empfingen sie mit der größten Freundlichkeit und schenkten ihnen allerhand gute Dinge aus unsern Rucksäcken.
„Ist es weit bis Roskilde?“ fragte Valdemar die Kinder.
„Ja“, sagten sie.
„Wie weit ist es zu gehen?“
„Wissen nicht“, sagten die Kinder. „Sind nie so weit gewesen.“
Nach der Mahlzeit packten wir alle unsere Sachen wieder zusammen und brachen auf.
Die Rucksäcke waren leichter geworden. Wir selber hatten uns gut erholt und traten nun die Wanderung wieder an.
Unsere Rast hatte ziemlich lange gedauert: die Sonne stand bereits tief am westlichen Himmel, aber es war immer noch sehr warm, und gar bald plagte uns wieder der Durst und die Müdigkeit.
Wir mußten unsern Marsch öfter unterbrechen und setzten uns dann jedesmal auf den weichen Rasen am Wegrand, mitten unter die Blumen.
Das half ein wenig gegen die Müdigkeit, den Durst aber konnten wir nicht löschen; denn es war weit und breit kein Wasser zu sehen.
Schließlich meinte Valdemar, der noch mehr an Durst litt als ich, wir sollten in irgendeinen der Bauernhöfe gehen, die überall zwischen den Feldern und Äckern lagen, und dort um einen Trunk Wasser bitten.
Ich ging gleich auf seinen Vorschlag ein, und so bogen wir vom Wege ab und gingen über einen schmalen Steg, der sich durch blühende Wiesen schlängelte und zu einem einsamen Bauernhof hinführte.
„Gewöhnlich sind die Bauern gute Leute“, sagte Valdemar. „Ich glaube, sie geben uns Milch zu trinken.“
„Das wäre fein“, erwiderte ich ihm. „Milch ist immer gut.“
Wir gingen wohlgemut in der Richtung der Gebäude durch das hohe Gras.
Bei der Biegung des Weges war ein kleiner Hügel. Als wir diesen umgangen hatten, sahen wir uns plötzlich einer Reihe von zehn bis zwölf Kühen gegenüber, schöne rote Kühe, die an Pflöcken angebunden waren und friedlich weideten.
Sie standen allein da, ohne Hirten und ohne Hund. Ich war von Island her daran gewöhnt, Kühe und Schafe, die ich bei meinen Wanderungen auf den Bergen einfangen konnte, kurzerhand zu melken und so meinen Durst mit ein wenig Milch zu löschen. Und um unsern Durst zu stillen waren wir doch vom Hauptweg abgebogen — was Wunder, wenn ich beim Anblick der schönen dänischen Kühe mich rasch entschloß, hier das gleiche zu tun wie in meiner Heimat.
„Valdemar“, sagte ich deshalb, „welch ein Glück für uns! Hier haben wir ja Milchkühe!“
„Was meinst du damit, Nonni?“
„Kannst du denn das nicht verstehen, Valdemar? Wir brauchen ja nur eine der Kühe zu melken. Dann ist unser Durst bald gelöscht.“
Valdemar wurde etwas nachdenklich. „Ob die Leute uns das nicht übelnehmen würden, Nonni?“
„Das glaube ich nicht, Valdemar. Ich habe es ja so oft in Island getan, und niemals sind die Leute mir deshalb böse geworden.“
Durch meine beruhigenden Worte und wohl auch wegen seines brennenden Durstes schienen die Bedenken Valdemars zu schwinden.
„Wenn du es meinst“, sagte er, „können wir es mal versuchen.“
„Wenn wir unsern Durst gelöscht haben, Valdemar, dann gehen wir nach dem Hof und sagen dem Bauern, daß wir ein wenig Milch von seinen Kühen getrunken haben. Da wird er uns das sicher nicht übelnehmen.“
Wir näherten uns den gutmütigen Tieren. Sie hörten alle auf zu grasen, drehten die Köpfe nach uns hin und schauten uns vertrauensvoll an.
Bald waren wir bei der vordersten Kuh angelangt. Sie ließ sich ruhig von uns streicheln und liebkosen.
Ich schnallte meinen Rucksack ab, legte ihn ins Gras und nahm meinen kleinen zinnernen Becher heraus.
„Ich werde ganz allein melken, Valdemar. Ich verstehe das. Du aber sollst bei der Kuh stehen bleiben und sie streicheln, damit sie stillhält.“
Valdemar begann sofort, das gute Tier am Kopfe freundschaftlich zu tätscheln, während ich mich auf die Knie fallen ließ und, den Becher fest in der linken Hand haltend, das Euter mit der rechten Hand anfaßte und die warme Milch herauspreßte.
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