Die Operation gelang prächtig, und in kurzer Zeit war der Becher zum Überfließen voll.
Ich stand auf, brachte ihn meinem Freunde und bat ihn, den ersten Trunk zu tun.
Freudestrahlend setzte er den vollen Becher an die Lippen und trank in einem Zuge den köstlichen Inhalt aus.
„Wie das gut schmeckt, Nonni!“ sagte er. „Aber wir müssen noch ein paar Becher trinken.“
„Das ist ja ganz klar, Valdemar“, erwiderte ich, indem ich mich anschickte, einen zweiten Becher voll zu melken.
Im Nu war auch der zweite Becher voll. Ich bot auch diesen meinem kleinen durstigen Reisegefährten an. Er nötigte mich aber, selbst zu trinken. Es ist ja noch immer genug da“, sagte er.
Valdemar hatte recht: es war genug da, und die Milch war vorzüglich.
Es sollte nun der dritte Becher voll gemolken werden.
Als er halb mit Milch gefüllt war, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine fürchterliche dänische Dogge in gewaltigen Sprüngen auf uns zugerannt. . . . Und hinter ihr her ein junger, etwa zwanzigjähriger Bauernbursche mit einem dicken Stock in den Fäusten. . . .
Sie kamen vom Hofe des Bauern her und sahen sehr bedrohlich aus. . . . Ja, es machten sowohl die Bestie wie auch der junge Mann so grimmige Gesichter, daß Valdemar und mir angst und bange wurde.
Der erste, der uns erreichte, war der Hund. Er sprang wütend auf mich zu, wie ich eben dastand mit dem halbgefüllten Becher in der linken Hand. Ich wollte mich durch einen Seitensprung vor ihm retten. Dazu ließ er mir aber keine Zeit. Keuchend riß er den Rachen auf, packte meinen rechten Oberarm und biß so fest zu, daß seine Zähne durch die Kleider und die Haut bis tief auf den Knochen drangen.
Ich schrie laut auf vor Entsetzen und schleuderte die ganze Milch, die im Becher war, der furchtbaren Bestie direkt in die Augen.
Geblendet durch die weiße Flüssigkeit ließ der Hund mich los, so daß ich mich durch einen Sprung neben Valdemar stellen konnte.
In diesem Augenblick war nun auch der Bauernbursche da.
Er faßte den wütenden Hund am Halsband und hielt ihn fest.
Meine Aufregung war so groß, daß ich im Augenblick gar keinen Schmerz von meiner Wunde am Arm verspürte.
Bei diesen Schrecknissen stand die große rote Kuh gelassen da, wie wenn die ganze Sache sie nicht im mindesten anginge. — Sie schien sowohl den Mann wie den Hund zu kennen.
Sobald der junge Bursche den großen Hund in seiner Gewalt hatte, kamen wir an die Reihe. Er warf uns böse Blicke zu und sagte:
„So, jetzt seid ihr abgefangen, ihr Diebe. Ihr kommt nun sofort mit mir nach dem Hof. Dort wird der Bauer noch ein paar Wörtlein mit euch zu reden haben; ihr sauberen Herren, ihr!“
Die letzten Worte sprach er mit einem solch höhnischen Lachen aus, daß wir nichts Gutes zu ahnen begannen.
Im ersten Augenblick wußten wir nicht, was wir antworten sollten. Aber bald kam ich doch so weit zu mir selbst, daß ich erwidern konnte:
„Wir sind keine Diebe. Wir wollten nur ein wenig Milch trinken, weil wir so durstig waren.“
Bei dieser Antwort lachte der junge Bauernbursche laut auf.
„So, so — ohne jede Erlaubnis die Milch aus unsern Kühen zu trinken, das ist kein Diebstahl? Sagt das nur dem Bauern im Hof. Das weitere wird dann schon kommen.“
„Wir hatten von vornherein die Absicht, hernach zum Bauern zu gehen und ihm zu sagen, daß wir ein wenig von seiner Milch getrunken haben.“
Bei dieser Antwort lachte der junge Bursche noch viel ärger und sagte: „Famos, mein Junge! Sag auch das dem Bauern! Das wird ihm Spaß machen. — Übrigens kann ich euch eine sehr erfreuliche Nachricht bringen: Als der Bauer mich mit dem Hund fortschickte, euch hier abzuholen, da war er eben damit beschäftigt, sich eine Birkenrute zurechtzuschneiden.“
Es entstand eine Pause.
Valdemar schaute mich entsetzt an.
Dann flüsterte er mir ganz leise ins Ohr:
„Was mag er mit der Rute vorhaben?“
„Ich will den Burschen fragen“, flüsterte ich ihm zurück.
Dann nahm ich mir ein Herz und fragte den Burschen:
„Was hat er mit der Rute vor?“
Das will ich dir sagen, mein Junge: Er hat vor, euch beiden eine Züchtigung zu geben, die ihr nicht so bald wieder vergessen werdet. Und das kann ich euch sagen: er versteht sich auf so was.“
Der junge Mann schien Freude zu haben an unsern verdutzten Gesichtern. Er fuhr fort:
„Ja, er versteht sich darauf: Vor kurzem faßte ich auch zwei Jungen in eurem Alter hier ab. — Milch hatten sie zwar nicht gestohlen, wie ihr, so schlimme Kumpane waren es nicht einmal. Sie haben nur die Kühe gefoppt und einige Steinchen nach ihnen geworfen. Als ich die beiden Burschen aber erwischt hatte und sie unserem Bauern nach dem Hof brachte, hat er sie dermaßen mit einer Birkenrute durchgeprügelt, daß man sie dort drüben noch schreien hörte.“ Dabei zeigte er mit der Hand nach einem Hof, der wohl eine halbe Stunde Weges entfernt war.
Das waren schlechte Aussichten für uns. Wir waren wie zerschmettert. Was war nun zu tun? Es kam mir der Gedanke, uns beide durch die Flucht zu retten.
Ohne ein Wort zu sagen, hob ich meinen Rucksack vom Boden auf, schnallte ihn rasch an meinen Rücken mit der Absicht, mit Valdemar davonzulaufen.
Aber der schlaue Bursche schien meine Gedanken zu erraten. Er sagte ganz gelassen:
„Ich gebe euch einen Rat: versucht nicht davonzulaufen; denn wenn ihr das tut, werde ich den Hund zum zweiten Male auf euch loslassen. Und — ihr wißt! — der hat gute Beine und kann euch unter Umständen gefährlich werden.“
Ich verstand sogleich, daß jeder Fluchtversuch aussichtslos sei. — Es blieb nichts anderes für uns übrig, als unser Geschick abzuwarten.
Der Bauernbursche hob den Becher, den ich vorher auf den Boden hatte fallen lassen, auf, betrachtete die Milch, die daran klebte, und sagte:
„Der könnte ja als Beweis gegen euch dienen, doch das ist nicht notwendig. Wir haben ja vom Hof aus alles gesehen.“
Dann steckte er den Becher unter vergnügtem Pfeifen in meinen Rucksack hinein. Und so konnten wir nun den Weg nach dem Hof antreten.
Die Aussicht auf die Züchtigung mit der Birkenrute hatte mich bis jetzt alles andere vergessen lassen — selbst die Wunden, die mir der Hund am Oberarm beigebracht hatte. Jetzt aber brannten und schmerzten sie mich von Augenblick zu Augenblick immer mehr.
Da schoß mir plötzlich ein glücklicher Gedanke durch den Kopf:
Einige Wochen vorher hatte ich in Kopenhagen gesehen, wie ein Junge einen großen Hund geneckt und von diesem gebissen worden war. Die Eltern des verwundeten Jungen zeigten die Sache an; sie kam vor Gericht, und der Eigentümer des Hundes wurde verurteilt, dem Jungen nicht nur die zerrissenen Kleider zu ersetzen, sondern ihm auch Schmerzensgeld zu bezahlen. Und das, trotzdem der Junge nicht ganz unschuldig war.
Das war ja gerade mein Fall hier. Auch ich war nicht ganz unschuldig, da ich von der Milch der Kuh getrunken hatte. — Auch ich war, wie jener Junge, von dem Bauernhund gebissen worden.
Nun denn: wenn das Hundebeißen in Kopenhagen strafbar ist, dann muß es auch hier auf dem Lande strafbar sein!
Also konnte ich klagen, und der Bauer konnte dazu verurteilt werden, meine vom Hund zerrissenen Kleider mir zu ersetzen und mir dazu noch Schmerzensgeld zu bezahlen.
In unserer schrecklichen Lage und in meiner Furcht vor der Züchtigung, die uns drohte, klammerte ich mich an diesen Gedanken wie an eine Rettungsplanke.
Valdemar, der aus Furcht vor den Prügeln helle Tränen weinte, mußte sofort mit diesem Plane bekannt gemacht und dadurch getröstet werden.
Wir gingen nebeneinander. Der Bursche ging hinter uns her. Der Hund schritt an der Spitze und wies uns den Weg.
Ich ergriff den weinenden Valdemar am Arme, neigte mich unauffällig zu ihm hin und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Laß das Weinen sein, Valdemar!“
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