Doch der Himmel blieb leer. Nur ein Eichelhäher warnte vor etwas, das Raku noch nicht erkennen konnte. Es war ein äsender Rehbock. Wenig später aber sah Raku, wie sein Vater sich mit mächtigen Schwingen hinter dem Gesträuch am Rand der Lichtung erhob und den Horst ansteuerte. Raku rief wieder. Und diesmal war es ein Bettelruf.
Der alte Rabe landete dicht vor Raku auf dem Ast. Ohne Aufforderung sperrte Raku seinen glutroten Schnabelrachen auf. Und der alte Rabe stopfte ihm hinein, was er in seinem Kehlsack trug. Dabei hatte Raku einige Mühe, auf dem schmalen Ast die Balance zu halten. Immerhin war das seine erste Fütterung auf diesem luftigen Platz. Manchmal flatterte er heftig mit den Flügeln, weil er um ein Haar abstürzte. Doch er krallte sich im letzten Augenblick fest und blieb oben. Und als sein Vater wieder zu neuer Futtersuche abstrich, schwang Raku sich mit ein paar kurzen Flügelschlägen zurück zum Nestrand.
Einige Tage später hockten alle vier Jungraben rund um das Nest. Es war ein sonniger Morgen und noch fast windstill. Raku hatte seinen Stammplatz auf dem schmalen Ast energisch verteidigt. Nur seiner Schwester Luja, die sich zuletzt vom Nest fortwagte, gestattete er einen Sitz neben sich. Luja war die Kleinste und Friedlichste von allen, zupfte nur selten, und manchmal versuchte sie ihn zu kraulen. Im Augenblick aber hielt Raku gar nichts davon.
Neugierig betrachtete er den Waldboden tief unter sich und hob versuchsweise ein wenig die Flügel. Langsam balancierte er ein Stück von Luja weg auf dem Ast entlang und äugte mit schiefgelegtem Kopf wieder hinunter. Dabei flatterte er heftig und stieß Flugrufe aus. Und als ein leichter Windstoß ihm unter die Flügel fuhr, ließ er den Ast plötzlich los und landete mit viel Geflatter unten auf einem Moospolster.
Hier ordnete er erst mal sein Gefieder. Lange hielt er sich allerdings nicht damit auf. Dieses weiche grüne Zeug unter seinen Füßen interessierte ihn. Ein paarmal hackte er kurz hinein und versuchte dann einige unbeholfen wackelnde Schritte auf ein dickes Grasbüschel zu. Doch sehr weit kam er nicht. Direkt vor dem Grasbüschel lag ein unbekannter länglicher Gegenstand von dunkelbräunlicher Farbe: ein Stückchen abgebrochener Fichtenborke.
Raku stutzte und blieb stehen. Vorsichtig beobachtete er den Gegenstand aus sicherem Abstand. Doch da das seltsame Ding sich nicht bewegte, faßte Raku Mut und pirschte sich in geduckter Haltung langsam heran, schlug einen Bogen und näherte sich von der anderen Seite.
In diesem Augenblick hörte er über sich das Rauschen großer Flügel. Das Geräusch war ihm vertraut. Er erkannte seine Mutter, die von der Futtersuche zurückkam. Jetzt interessierte ihn das Borkenstückchen nicht mehr. Ein Bettelruf drang aus seiner Kehle. Und seine Mutter ging nicht weit von ihm nieder und stillte seinen Hunger.
Das aber schien Soku zu reizen, der wie seine Schwestern immer noch oben auf einem der Kiefernäste neben dem Nest saß. Er stieß einen Flugruf aus und flatterte unbeholfen herunter. Er wollte auch seine Futterportion haben. Doch er bekam nur einen kärglichen Rest.
Raku spazierte inzwischen wieder auf das Grasbüschel los. Dabei gab er unentwegt Kontaktlaute von sich. Er fühlte sich noch ziemlich unsicher in der fremdartigen Umgebung. Erst als seine Mutter sich wieder vom Boden erhob, verstummten seine Rufe.
Das Borkenstückchen lag noch an der gleichen Stelle wie vorher. Und das weckte Rakus Neugier. Trotzdem blieb er nach Rabenart vorsichtig. Schließlich konnte das unbekannte Ding ebensogut ein gefährlicher Feind sein wie eine Beute. Und das mußte er erst herausbekommen.
Jetzt trennten ihn nur noch wenige Schritte von dem bräunlichen Gegenstand. Raku öffnete drohend den Schnabel. Das Ding rührte sich noch immer nicht. Plötzlich stieß Raku vor, verpaßte dem Borkenstückchen einen kräftigen Schnabelhieb und hob sich aufgeregt flatternd in die Luft. Von einem halbvermoderten Baumstumpf in der Nähe beobachtete er gespannt, was das Ding machte. Als es teilnahmslos liegenblieb, wiederholte Raku seinen Angriff und flatterte zurück zum Baumstumpf. Und das tat er noch ein paarmal.
Endlich hatte Raku seine Scheu überwunden. Das seltsame Ding war offenbar ungefährlich. Nun mußte er nur noch feststellen, ob es auch genießbar war. Neugierig wackelte er darauf zu, packte es mit einer Kralle, hieb einmal kurz und kräftig darauf und nahm die Borke in den Schnabel. Das Holz schmeckte ihm nicht. Außerdem war es viel zu hart. Aber es eignete sich gut als Spielzeug. Und so zog er mit seiner Beute zu dem Baumstumpf, wo er sie erst mal in einem Spalt versteckte.
Nur bemerkte Raku nicht, daß Soku ihn dabei genau beobachtete. Und kaum blickte Raku ein Stück entfernt einer vorübersummenden Hummel nach, da schoß Soku eilends herbei, um sich die Borke zu holen. Doch Raku war schneller und flatterte mit dem Holz quer im Schnabel davon. Und Soku flatterte wild hinter ihm her.
Das gefiel Raku. Er flog eine Schleife und landete. Kurz danach kam auch Soku wieder zu Boden. Darauf hatte Raku nur gewartet. Gemächlich wackelte er auf Soku zu und legte ihm das Holz vor die Füße. Soku stutzte. Angst hatte er nicht mehr davor. Er hatte ja gesehen, wie Raku damit umgegangen war. Aber bevor er zupacken konnte, schnappte Raku ihm das Holz blitzschnell unterm Schnabel weg, machte kehrt und sauste aufwärts in einer Kurve über Sokus Kopf. Nach ein paar Metern ließ er das Borkenstückchen fallen, setzte daneben am Boden auf und wartete.
Soku äugte mit schiefgelegtem Kopf erst auf das Hölzchen und dann zu Raku hinüber. Er schien zu überlegen, ob das eine Aufforderung zum Spielen sei. Immerhin hatte Raku seinen Schnabel beschwichtigend abgewendet und wirkte auch sonst recht friedlich. Nur so ganz traute Soku dem Frieden nicht. Er machte sich erst mal ziemlich klein und dünn und zog den Kopf zwischen die Schultern, ließ dabei das Borkenstück aber keine Sekunde aus den Augen.
Plötzlich hüpfte Raku los, packte das Holz mit dem Schnabel und streckte es Soku auffordernd entgegen. Jetzt schnappte auch Soku zu. Aber Raku ließ nicht los, griff es auch noch mit der Kralle und begann wie ein Wilder zu ziehen. Und Soku zog genauso wild von der anderen Seite. So zerrten sie mit aufgestelltem Scheitelgefieder eine Weile hin und her.
Mit einemmal brach die morsche Borke in der Mitte durch. Die beiden Raben taumelten und flatterten verdutzt, jeder ein Bruchstück im Schnabel. Dann sauste Soku mit seiner Beute davon.
Raku schüttelte energisch das Gefieder und ließ seinen Holzrest fallen. Das Ding interessierte ihn nicht mehr. Nach all der Aufregung spürte er nur noch Hunger.
Langhallender Donner grollte vom Tal her gegen den Berghang. Blitze grellten aus einer nachtdunklen Wolkenwand. Und Windböen peitschten Gewitterschauer über den Waldrand und die Lichtung, rüttelten am Gezweig der alten Kiefer.
Raku hob verschlafen den Kopf und blinzelte erschreckt in den grauen Morgen. Gewitter hatte er bis jetzt nur im Nest erlebt: unter den schützenden Fittichen seiner Mutter. Solch ungemütliches Wetter allein in luftiger Höhe war ihm neu. Und als eine noch stärkere Böe ihn beinahe vom Ast wehte, flatterte er vorsichtshalber hinunter auf den Waldboden. Hier fühlte er sich sicherer. Und es war auch ruhiger zwischen den Stämmen. Nur in den Wipfeln rauschte der Wind.
Trockener aber war es hier unten nicht. Bis zum Hals saß Raku im pitschnassen Gras. Von den Zweigen über ihm tropfte es. Und Regen prasselte durch die Baumkrone.
Mit einemmal stutzte er. Im Halbdämmer unter den Bäumen bewegte sich etwas. Raku streckte drohend den Kopf vor und öffnete seinen Schnabel. Es stieß ein lautes „Graaak“ aus, wurde dann aber ziemlich schnell klein und dünn. Dieses unbekannte Wesen war ihm unheimlich. Und es kam langsam näher.
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