Die Kleinen fühlten sich wohl in dem sicheren Heim. Sie wußten noch nichts von Gefahr. Selten nur verirrte sich ein Mensch an diesen abgelegenen Ort. Und doch war es nicht mehr ganz so wie früher. Saurer Regen ließ allmählich ringsum die Bäume absterben: zuerst die Tannen und Fichten und nun die Laubbäume. Auch die stattliche Horstkiefer wurde von Jahr zu Jahr lichter. Teile ihrer Nadeln vergilbten und fielen ab. Und als die Tage Ende April immer länger wurden und die Sonne heiß durch die nadelarmen Wipfelzweige brannte, wurde es den Nestlingen zu warm.
Aber die Räbin wußte, was zu tun war. Mit abgewinkelten Flügeln stellte sie sich über ihre Jungen, hielt die sengenden Strahlen ab und spendete Schatten. Und der Rabe, der auf einem Seitenast sein Gefieder geputzt hatte, hockte sich auf den Rand des Horstes und stach mit seinem starken Schnabel kleine Löcher in den Nestboden, damit von unten kühlende Luft durchwehen konnte. So wurde die Hitze im Nest erträglicher. Und die vier Jungraben genossen die nächste Fütterung mit gutem Appetit.
Gegen Mittag aber schlief der leichte Wind ein. Die Luft stand flirrend heiß und unbeweglich über der Lichtung am Waldrand. Rakus Kehle wurde trocken. Er spürte Durst, machte einen langen Hals und hechelte. Auch von seinen Geschwistern ertönten klägliche Hechellaute.
Als der Rabe das nächstemal den Horst anflog, brachte er weder Heuschrecken noch Mäusebrut. Aus seinem Kehlsack tränkte er die Jungen fürsorglich mit Wasser. Und er strich gleich noch einmal ab, um eine neue Ladung zu holen. Dann stellte er sich als Schattenspender über die Kleinen, während die Räbin ihre Schwingen ausbreitete und den schmalen Waldbach am Ende der Lichtung ansteuerte. Neugierig betrachtete Raku die riesigen Schwanzfedern seines Vaters. Und einem unwiderstehlichen Drang folgend, begann er vorsichtig daran herumzuzupfen. Dem alten Raben aber schien das weniger zu gefallen. Er wandte seinen Kopf mit dem mächtigen Schnabel und musterte streng seinen vorwitzigen Sohn.
Raku machte sich vor Schreck ganz klein und dünn, duckte sich demütig, sperrte seinen Schnabel auf und gab einige ängstliche Fistellaute von sich. Offenbar stellte den Alten Rakus kindliches Gebaren zufrieden. Er zwinkerte einmal kurz. Und Raku atmete auf.
Außerdem hatte der Rabe inzwischen die Räbin entdeckt, die sich in elegantem Flug dem Nest näherte. Er begrüßte sie schon von weitem mit eifrigen Verbeugungen und stieß ein wohltönendes „Krrooa“ aus. Dann räumte er seinen Platz.
Erwartungsvoll öffnete Raku seinen Schnabel. Doch es gab nicht noch einmal einen kühlenden Trank. Die Räbin schob sich mit ihrem klitschnassen Bauch über ihre Jungen. Und bevor Raku begriff, was das bedeuten sollte, schüttelte seine Mutter ihr Gefieder. Und Raku bekam mit seinen Geschwistern ein wild spritzendes Brausebad.
Raku legte seinen Kopf schief und äugte verdutzt nach oben. So was war neu für ihn. Aber die Dusche hatte ihm gefallen: Das wirkte sehr erfrischend bei der Hitze. Nur sah er mit seinem naßgespritzten Gefieder ein bißchen merkwürdig aus. Doch das störte ihn nicht weiter. Er hatte immer noch Durst. Und allmählich bekam er wieder Hunger. Geräuschvoll meldete er seine Wünsche an. Und das half.
An diesem Tag kamen die Rabeneltern kaum zur Ruhe. Unermüdlich schleppten sie Raupen, Käfer und Würmer, Heuschrecken und Mäuse heran, manchmal vermischt mit etwas Pflanzenkost. Die Räbin und auch der Rabe träufelten Wasser in ihre fordernd aufgesperrten Schnäbel. Und als die Räbin ihre Jungen das nächstemal mit einem Duschbad versorgte, reckte Raku seinen kleinen Körper so hoch wie möglich, damit ihm ja kein Tropfen entging.
Im Mai wurden auch die Nächte wärmer. Die Kleinen trugen inzwischen ihr rabenschwarzes Federkleid. Und die Räbin übernachtete schon eine ganze Weile nicht mehr auf dem Nest. Meist saß sie am Nestrand oder dicht daneben auf einem Ast. Raku hatte sich allmählich daran gewöhnt. Solange die beiden großen Raben in der Nähe des Nestes waren, fühlte er sich sicher und geborgen.
Manchmal horchte er auf die Laute der Nachtvögel: den dumpfen Ruf des Uhus oder den unheimlich klingenden eines Waldkauzes. Und wenn in hellen Nächten der bleiche Schein des Mondes durch den Wipfel der Kiefer fiel und eine Fledermaus vorüberflatterte, streckte er mit aufgerichtetem Scheitelgefieder den Hals krächzend vor und klappte drohend mit dem Schnabel. Die Fledermaus aber war längst zwischen den Zweigen der umstehenden Bäume verschwunden. Und nach einer Weile schloß Raku schläfrig die Augen.
Tagsüber jedoch wurde es ihm im Nest oft zu langweilig. Er wollte spielen, pickte neugierig nach den Schnäbeln seiner Geschwister und zupfte an ihrem Gefieder herum. Nur zupften und pickten diese ebenfalls, vor allem seine Schwester Nalka. Dann brachte Raku erst mal seine zerzausten Federn in Ordnung. Und er turnte geschickt auf den Nestrand, hob seine Flügel und veranstaltete eifrig Flugübungen. Dabei stieß er einen wie „raap“ klingenden Flugruf aus, immer und immer wieder. Aber so ganz traute er sich noch nicht.
Der erste Flug gelang ihm erst ein paar Tage später. Es war ein strahlend heller Frühlingsmorgen. Tau glitzerte an den Halmen und Blüten. Im Wipfel einer Lärche jenseits der Lichtung sang eine Amsel. Raku hatte ein ausnehmend gutes Frühstück bekommen: eine halbe Maus. Und er war satt.
Wieder hockte er oben auf dem Nestrand und besah sich die Gegend. Gar nicht weit vor ihm ragte ein Ast seitlich vom Nest aus dem Stamm. Ein leichter Wind wehte vom Tal herauf, spielte mit Rakus Gefieder. Raku spreizte unternehmungslustig seine Flügel, spürte den Wind darunter. Das war ein gutes Gefühl. Und er flatterte ein wenig, noch ziemlich unbeholfen, flatterte immer heftiger. Sein Flugruf tönte in den Morgen. Plötzlich spürte Raku Luft unter sich, nichts als Luft. Er erschrak. Und dann spürte er den Ast. Und er krallte sich daran fest. Raku war geflogen, zum erstenmal in seinem Leben geflogen.
Aufmerksam beäugte er die ungewohnte Umgebung. Von dem schmalen Ast sah alles ganz anders aus. Und das reizte ihn. Vorsichtig balancierte er ein winziges Stück auf dem Ast entlang bis zu einem kleinen Seitenzweig, umklammerte ihn mit der Kralle und hackte mit dem Schnabel darauf herum.
Plötzlich brach der Zweig mit leisem Knacken, doch er fiel nicht. Raku hielt ihn fest, nahm ihn quer in den Schnabel und balancierte wie ein Seiltänzer damit weiter bis zum Stamm der Kiefer. Hier blieb er erst mal sitzen.
Drüben hockte jetzt Nalka auf dem Nestrand und beobachtete neugierig Rakus sonderbares Treiben. Vom Fliegen schien sie noch nicht viel zu halten, obwohl sie mitunter ein wenig herumflatterte. Ihr Bruder Soku lugte nur einmal über den Rand zu Raku hinüber und zupfte seine Schwester von hinten am Schwanz. Auch Luja guckte kurz. Dann verschwanden alle laut krächzend in der Nestmulde.
Raku interessierte sich inzwischen für den Kiefernstamm, wo schräg über ihm ein anderer Ast herausragte. Er ließ das Zweigstückchen aus dem Schnabel fallen und hackte auf den Ast los. Doch mittendrin stutzte er. Gar nicht weit von ihm fiel ein dicker Zapfen aus dem Wipfel einer Fichte.
Raku erschrak, zog den Kopf zwischen die Schultern und machte sich ganz klein und dünn. Er beruhigte sich erst wieder, als der Zapfen unten auf dem Bogen aufschlug, ein Stückchen rollte und dann liegenblieb. Jetzt richtete Raku sein Gefieder wieder auf, machte einen dicken Kopf und stieß einen Drohlaut aus. Fallende Fichtenzapfen waren ihm noch unheimlich. Außerdem vermißte er seine Eltern in der Nähe. Sie suchten irgendwo nach Futter für ihre ewig hungrigen Jungen. Das kam in letzter Zeit öfter vor. Und das behagte Raku gar nicht. Beunruhigt spähte er zum Himmel und stieß einen lauten Ruf hervor, der wie „rüh“ klang. Und auch seine Geschwister fielen ein. Sie hatten schon wieder Hunger, genau wie Raku.
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