Noch eine andere Erinnerung aber, weit unheimlicher und schauerlicher als diese, tauchte ihm zugleich aus seiner Kinderzeit auf. Im Örtchen Salach am Fuße von Stauffeneck war außerhalb der Kirchhofmauer ein kleiner Hügel, wohl durch Anhäufung von Scherben und allerlei Unrat entstanden, aber seit langer Zeit mit üppigstem Grün bekleidet, und unter dieser Erhöhung, so flüsterte man im Volke, sei der »schwarze Mann« begraben. Dorfkinder mieden den Ort, obwohl hier immer die ersten Primeln blühten und zur Veilchenzeit ein wunderbarer Duft von der Stelle ausging. Auch Veit hatte es in seinen Knabenjahren, wenn er nach Stauffeneck kam, als keine geringe Leistung betrachtet, in der Dunkelheit allein an dieser Kirchhofecke vorüberzugehen, und er tat es nur mit zugedrückten Augen und beschleunigtem Schritt.
Wer der schwarze Mann war, wußte er nicht, denn nach Kinderart war es ihm nie eingefallen, sich um Dinge zu kümmern, die so weit vor seiner Zeit lagen, nur ging im Dorf die halbverschollene Sage, derselbe sei ein schrecklicher Zauberer und Schatzgräber gewesen. Auch spielten zuweilen die älteren Leute auf irgendeinen schauerlichen Vorfall an, der mit dem »Schwarzen« zusammenhing.
Diesen Nekromanten hatte nun die Phantasie der Schloßkinder mit dem Schatz im Kellergewölbe in Verbindung gebracht, und sie pflegten sich zu erzählen, daß nächtlicherweile der schwarze Mann aus seinem Hügel steige und nach dem Burgverlies schleiche, um dort den Schatz zu heben, der ihm auch im Grab keine Ruhe lasse, daß er aber jedesmal von dem Hund mit den feurigen Augen zurückgetrieben werde. Oder war es doch nicht die eigene Einbildungskraft gewesen, welche jene beiden Gegenstände so eng in seiner Vorstellung verwob? Hatte er vielleicht einmal erzählen hören, dieser Schatzgräber habe nach dem Klostergut von Sankt Blasien gestrebt und sei darüber ums Leben gekommen? Hier wurden seine Erinnerungen so dunkel und ungewiß, daß dem angestrengten Gedächtnis mit aller Mühe nichts weiter abzuringen war.
Als der Junker sich festgesetztermaßen in Reuchlings Gesellschaft bei Herrn Bernardo einfand, traf er dort nebst den Söhnen und anderen Verwandten des Hauses auch den unvermeidlichen Marcantonio, der ihn mit dem kalten Blick stillen Hohnes maß. Junker Veit hatte zwar nach den deutschen Begriffen von dazumal eine für seinen Stand ausreichende Bildung genossen, konnte sich auch zur Not im Lateinischen ausdrücken, aber bei all der Gelehrsamkeit, welche die Florentiner Herren zu seinen Ehren verpufften, wurde ihm heiß und kalt, und er war herzlich froh, sich unter die Fittiche des Geheimschreibers ducken zu können, besonders gegen den berühmten Marcantonio, der sich ein Vergnügen daraus machte, ihn in gefährliche Satzbildungen zu verstricken und vor dem künftigen Schwäher zu Fall zu bringen. Doch Reuchlin war dem Italiener völlig gewachsen, und der Gelehrte fing mit dem funkelnden Schwert seines Geistes manchen Hieb auf, der dem Kriegsmann gegolten hatte, wofür ihm dieser erst viele Jahre später, da Reuchlin von den Dunkelmännern seiner Heimat umlagert war, den schuldigen Dank und Gegendienst entrichten konnte.
Allgemach kamen die Verhandlungen nach langem Hin- und Widerreden, das den Florentinern einen aufrichtigen Genuß gewährte, zu gedeihlichem Abschluß, und der Heiratskontrakt wurde Punkt für Punkt zu Papier gebracht. Jetzt erschien auch das Fräulein morgenfrisch und züchtig erglühend ohne eine Spur der nächtlichen Tränen, und Herr Bernardo trat in die Mitte der Anwesenden, die Tochter an der einen, den Junker an der anderen Hand, und hielt, nachdem die Ringe getauscht waren, eine schöne lateinische Verlobungsrede über das Wesen der Treue, die mit dem Tode des Regulus begann und mit der Zerstörung von Karthago endigte. Glückwünsche wurden nach antikem Muster getauscht, und auch Marcantonio stattete den seinigen ab, ohne durch eine Miene zu verraten, daß ihm der lästige Zwischenfall einen altgehegten Wunsch durchkreuzte.
Indes die breiten Wogen der Dialektik, jetzt völlig zum Selbstzweck entfesselt, das Gemach durchrauschten, stand Junker Veit neben seiner Verlobten in einer Fensternische, von dem mächtigen Teppichvorhang halb verdeckt, und suchte sich mit ihr durch Blicke und leisen Druck der Hand zu verständigen, bei welcher Sprache er der Hilfe des gelehrten Kapnion wohl entraten mochte. Wie Lucrezia diese Zeichensprache aufnahm, konnte man nicht sehen, denn sie hielt ihr Köpfchen von der Gesellschaft abgewandt, aber wenn die Miene des jungen Mannes ein Spiegel der ihrigen war, so konnte es kein unfreundliches Gesicht sein, was sie ihm zeigte.
Da trat Herr Bernardo dazwischen und legte mit anmutiger Hoheit seine Hand auf des Junkers Schulter.
»Es ist Zeit zu scheiden«, sagte er. »Fahre wohl, mein Sohn, die Götter schenken dir günstigen Vogelflug, und dich geleite der Gott der Wanderer an seinem sicheren Stabe.« »In die Unterwelt; Amen!« setzte Marcantonio leise hinzu. Beim nächsten Morgengrauen, während Graf Eberhard mit Rossen und Mannen der Ewigen Stadt entgegenzog, lenkte Junker Veit sein Pferd durch die Porta San Gallo der nordischen Heimat zu.
Längst waren die Leuchtkäfer verglommen und die Nachtigallen verstummt, der Hochsommer war eingezogen mit seiner weißglühenden Sonne und seinem endlosen Zikadengeschmetter, aber noch war keine Kunde von Junker Veit gekommen. Im Hause der Rucellai hatte man geglaubt, daß der rasche Werber in spätestens zwei Monaten zurück sein würde, und Lucrezia hatte im Vorgefühl des nahen Abschieds die Plätze ihrer Kindheit durchstreift und tränenden Auges allen Freundinnen Lebewohl gesagt. Sonst war alles sich gleich geblieben, nach wie vor brannte das Lämpchen bei Ciceros Büste, nach wie vor sprach Herr Bernardo im Stil der römischen Redner, und Lucius Rufus mühte sich treulich, es ihm nachzutun. Wie sonst verbrachte der berühmte Marcantonio seine Abende im Palaste Rucellai oder in der Loggia, die jetzt von übermächtigem Orangen- und Zitronenduft erfüllt war. Bernardo hatte sich eine Karte von Germanien zu verschaffen gewußt, an der sie zu dreien studierten, um die Lage des Landes Suevien festzustellen; da sie aber nicht wußten, ob sie dasselbe in Nord, Süd, Ost oder West zu suchen hatten, standen sie bald wieder von ihren geographischen Forschungen ab. Diesen Umstand benützte Marcantonio, um dem Kinde von den germanischen Landen, die auch der Vater nur aus der Beschreibung des Tacitus kannte, ein höchst abschreckendes Bild zu entwerfen, und von den Bewohnern sagte er, sie seien ein wildes, dem Trunke ergebenes Volk, wozu aber Bernardo die Bemerkung fügte, daß die Frauen dort in hohen Ehren gehalten würden.
Im übrigen führten sie zusammen ein einförmiges Leben, denn der alte Herr öffnete den Mund nur, um sich selber reden zu hören, und Marcantonio, so witzig mit der Feder, war ein dürftiger und trockener Gesellschafter.
Als sich nun die Frist, die dem Mädchen anfangs so erwünscht war, wider Erwarten mehr und mehr in die Länge zog, ertappte sie sich zuweilen auf dem Gedanken: »Er bleibt aber lange aus« – was auch Marcantonio dem Vater gegenüber auf seine Weise aussprach mit den Worten: »Er zeigt wenig Eile, dein junger Barbar.«
Bernardo war nicht aus seiner Gemessenheit zu bringen. »Ich habe ihm längere Frist zugestanden, als er zum knappen Hin- und Herreiten braucht. Auch kann ihm ja ein Unfall zugestoßen sein.«
Bei diesen Worten erbleichte Lucrezia und empfand etwas wie einen Stich am Herzen. Sie beugte sich über die Loggia hinaus und wandte die Augen ängstlich nach der Richtung, in der sie das Land Germanien vermutete. Von nun an blickte sie oft nach Norden und eilte zum Fenster, sooft die Piazzetta von Hufschlag dröhnte. Selbst wenn einmal ein Windzug von den Alpen her die glühende Hitze kühlte, so dachte sie stets daran, daß diese Lüftchen denselben Weg gewandert seien, auf welchem auch der blonde Reitersmann kommen mußte.
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