Doch erfuhr niemand, was in ihr vorging, als der rote Lutz, der sie von Kindesbeinen kannte und von dem sie sich jetzt insgeheim die Anfangsgründe der deutschen Sprache beibringen ließ. Er war zwar wegen seiner Schwülstigkeit nicht der berufenste Lehrer, hatte auch in zwanzigjähriger Abwesenheit vom Vaterland das Deutsche zum Teil vergessen, aber mit Beharrlichkeit brachte sie es so weit, die Namen der Dinge aus einem Wust von Torheit herauszuschälen und sich ins Gedächtnis zu prägen. Es war nur ein schwacher Anfang, aber er sollte dem Verlobten ihren guten Willen zeigen, und sie freute sich königlich darauf, ihn in den Lauten seiner Muttersprache zu begrüßen.
Unterdessen war in der ganzen Stadt die seltsame Verlobung Lucrezias bekannt geworden, und auch am mediceischen Hofe wurde viel darüber gescherzt, daß die junge Florentinerin den alten Römer aus der Gefangenschaft loskaufen müsse. Doch, obwohl man allgemein bedauerte, ein so schönes Mädchen aus Florenz zu verlieren, war niemand, der Herrn Bernardo getadelt hätte, denn so hoch stand das Ansehen des römischen Autors, daß man wohl begriff, wie der Vater sein eigen Fleisch und Blut nicht zu kostbar hielt für diesen Tausch.
Nur Marcantonio sah den alten Freund mit immer vorwurfsvolleren Augen an. Als sich gar der Hochsommer zu Ende neigte, suchte er allmählich durch leises Wühlen den Glauben Bernardos an die Rückkehr des barbarischen Bräutigams zu erschüttern, indem er ihm vorrechnete, daß eine Frist wie die verstrichene genügt hätte, das goldene Vlies herbeizuschaffen, geschweige einen alten Kodex aus dem eigenen Keller.
Doch Bernardo runzelte nur die olympischen Brauen ein wenig.
»Der Verfasser der ›Facetiae‹ darf sich etwas bei mir erlauben. Aber treibe keinen Mißbrauch mit dem Recht an meine Liebe, das ein unvergleichliches literarisches Verdienst dir erworben hat. Kann der Fremdling die Bedingung nicht erfüllen, so sendet er mir den Ring zurück, und alsdann magst du deine Werbung erneuern.«
Auch gemeinsame Freunde, die sich auf Marcantonios Bitten bei Bernardo bemühten, erhielten keine andere Antwort als: »Ein Rucellai hält, was er verspricht. Was hülfe uns das Studium der Alten, wenn wir uns nicht ihre Tugenden zu eigen machten!«
Der alte Herr war mittlerweile mit seinem Töchterlein auf ein kleines Landgut im Val d’Ema gezogen, das eigentlich Marcantonio gehörte, aber wegen seiner reizenden schattigen Lage und der Nähe der Stadt schon seit Jahren der Familie zum Sommersitz diente. Dort las er zum vierzehnten Male das berühmte Buch seines Verwandten und ergötzte sich an der geistigen Fülle, die aus den toten Lettern sprudelte und von der dem Verfasser im Umgang so wenig anzumerken war. Unter diesem Einfluß verwandelte sich ganz allmählich der Wunsch, seine Tochter durch die Hand eines solchen Mannes glücklich zu machen, in ihm zur Überzeugung, daß der deutsche Junker doch nicht zurückkehren werde, und endlich ließ er sich von Marcantonio das Versprechen entreißen, daß, wenn binnen eines Monats noch immer keine Nachricht von dem Fremdling gekommen sei, er der Heirat seines bewunderten Freundes mit Lucrezia kein Hindernis mehr in den Weg stellen werde.
Noch ein Monat! Dem Gelehrten schien es, als habe dieser Zeitraum die zehnfache Zahl der Tage, die sonst zu einem Monat gehörten. Nicht daß er gefürchtet hätte, der deutsche Junker werde unterdessen mit dem alten Manuskript zurückkehren und den Preis einfordern, er wußte ja und er allein, daß dies unmöglich war. Aber das Ziel seiner Wünsche rückte abermals in die Ferne, und doch war ihm die Hand der schönen Lucrezia schon versprochen am Tag, wo seine berühmten Facetien das Licht erblickt hatten, und wenn auch die schwarzen Augen des Mädchens kein jugendliches Feuer mehr in seinen Adern entzündeten, so fand er es doch süß, die Hand der schönsten Erbin einzig seinem Ruhme zu danken.
Damals, nach Erscheinen seines Buches, war der gemessene Bernardo wie außer sich zu ihm gestürzt, hatte sich an seine Brust geworfen, ihn den Stolz der Familie und seinen künftigen Eidam genannt.
Ach, diese Facetien! Wäre nur nicht mit dem Ruhm eine so widerliche Erinnerung verknüpft gewesen! Jahrelang hatte Marcantonio sie in den fernsten Winkel seines Gedächtnisses zurückgedrängt und sie am Ende fast vergessen. Seit dem Besuch der Deutschen in Florenz und dem erneuten Forschen nach dem ciceronianischen Kodex war sie plötzlich aus ihrem Winkel hervorgekrochen und blickte ihm jetzt ängstlich ins Gesicht, mit heimlicher Schamröte auf den Wangen.
Er hatte lange gehofft, das unsichtbare Schandmal, das an seinem literarischen Triumph hing, durch nachfolgende Triumphe zu verlöschen. Der Ruhm, dachte er, werde seinem Geiste Nahrung geben und ihn zu einer Reihe großer Schöpfungen befähigen. Diese Hoffnung blieb unerfüllt. Wie die Aloe nur einmal blüht, so hatte Marcantonio in den »Facetiae« seine literarische Kraft erschöpft, so wenigstens sagten seine Freunde.
Es war indes kein Wunder, wenn man diese Fülle glänzender Einfälle und ihre unnachahmliche klassische Form bedachte. Ein Reichtum an Geist, den bisher niemand bei dem ledernen Gelehrten gesucht hatte. Cicero selbst hätte sich dieses Buches nicht zu schämen gebraucht.
Es war eine schwere Wahl gewesen, vor die sich Marcantonio gestellt sah, als vor nunmehr sechs Jahren sein Agent aus Deutschland zurückkehrte und ihm mit den anderen Bücherschätzen auch jenen langgesuchten ciceronianischen Kodex überbrachte, nach welchem Bernardos Sinnen stand.
Sollte er sich mit dem Ruhm des Finders begnügen und noch dazu das Buch seinem Freunde ausliefern? Es war seine redliche Absicht gewesen, aber da begann er zu lesen und blieb gefangen. Er stieß auf so überraschende Sprachwendungen, zugleich einfach, treffend und wohllautend, daß er nicht umhin konnte, die eine und die andere seiner eben begonnen literarischen Arbeit einzuverleiben. Bald riß es ihn weiter, Ciceros Gedanken, Ciceros Worte drängten sich ihm in die Feder, und so entstand jene Perle der neulateinischen Literatur, welche die gelehrte Welt unter dem Titel »M. Antonii Oricellaris Facetiae« bewunderte. Sein Leben lang verzehrt von ohnmächtigem Ehrgeiz, war er endlich unter die Fittiche des Adlers gekrochen und hatte sich von ihm nach dem ersehnten Ziele, einem Stuhl in der platonischen Akademie, tragen lassen.
Bei der Erinnerung an den Ursprung seines Ruhmes warf Marcantonio einen scheuen Blick nach dem Kamin, wo dazumal Ciceros liber jocularis in Rauch und Flammen aufgegangen war. Es ängstigte ihn, als sei ein Brandmal davon zurückgeblieben.
Sonnenlose Schwüle hatte den ganzen Tag über der Landschaft gelastet, daß selbst das Laub der Bäume schlaffer hing und die ganze Natur unter dem Bann des Scirocco siechte. Kaum daß da und dort ein Vogel schüchtern die Stimme erhob und gleich wieder verstummte, wie erschreckt von dem unheimlich brütenden Schweigen.
Bernardo, der trotz seiner Jahre dem Glutstrom mannhaft standhielt, war den ganzen Tag tätig gewesen, um ein paar jungen Landleuten für das morgige Fest einen Schäferchor einzuüben, zu dem er selbst die Verse verfaßt hatte. Als jedoch der Abend dämmerte, ohne der Welt Erlösung zu bringen, da gab auch er sich überwunden und wankte mit schweißtriefender Stirne in sein schwüles Schlafgemach. Seine Tochter hatte sich schon lange zurückgezogen, die Diener schnarchten, im Hause war alles still, nur der Bräutigam machte mit Lucius einen letzten Gang durch die Räume, wo morgen die Hochzeitsgäste bewirtet werden sollten. Nachdem alles besorgt war, schlich Lucius leise vor sich hinmurmelnd in den dämmernden Garten hinunter, der sich in Terrassen gegen die Talsohle zu senkte. Er hatte auf das Beispiel seines Gebieters hin den kühnen Plan gefaßt, für das morgige Fest einen »Triumph der Liebe« zu dichten, den er selbst in der Maske des Götterboten vorzutragen gedachte. Schon seit mehreren Tagen mühte er sich im Schweiße seines Angesichts, aber die Muse setzte ihm einen so hartnäckigen Widerstand entgegen, daß er der Verzweiflung nahe war.
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