Die kleine Entfernung von seinem Fenster zu ihrem Hause bedeutete also wohl eine unüberschreitbare Kluft, und dennoch lächelte der junge Mann leise vor sich hin, während seine Phantasie eine bunte Brücke in den Farben des Regenbogens hinüberbaute.
Da ging drüben am Hause, das mit der Loggia verbunden war, die Türe auf, und heraus trat zu Veits froher Überraschung Johann Reuchlin, Graf Eberhards jugendlicher Geheimschreiber, geleitet von jenem schönen würdevollen Greis im Silberhaar, den Junker Veit neben dem Mädchen erblickt hatte, und er sah, daß die beiden sich auf der Schwelle herzlich wie alte Freunde verabschiedeten.
Veit sprang mit klirrenden Sporen ungestüm die Treppe hinab, um den Geheimschreiber an der Straßenecke zu stellen und über die Bewohner jenes Hauses zu befragen. Da erfuhr er, daß der würdevolle alte Herr Bernardo Rucellai heiße, ein Stern des Humanismus sei, durch Familienbande dem Herrscherhaus verknüpft und zugleich naher Anverwandter jenes berühmten Marcantonio Rucellai, den die gelehrte Welt als den glänzendsten neulateinischen Autor verehre.
»Leider mußte ich dem alten Herrn eine schmerzliche Enttäuschung bereiten«, fuhr der Geheimschreiber fort. »Er hatte gehofft, ich würde ihm ein einzig vorhandenes Manuskript zur Stelle schaffen, einen uralten Cicero, auf den die Rucellai seit dreißig Jahren fahnden. Doch meine Bemühungen waren vergeblich, und nun schmerzt es mich, daß der alte Herr wohl im stillen denken mag, ich habe den kostbaren Kodex auf die Seite gebracht, denn leider, Junker, gibt es unter Gelehrten weder Treu noch Glauben, sobald ein alter Autor auf dem Spiele steht.«
Der Junker hörte diesen Erklärungen nur mit halbem Ohre zu, denn ganz anderes lag ihm am Herzen als der alte Herr mit seinen literarischen Nöten.
»Habt Ihr auch seine Familie kennengelernt, Herr Geheimschreiber?« fragte er zögernd.
»Herrn Marcantonios Bekanntschaft ist mir auf morgen versprochen«, entgegnete Reuchlin nicht ohne eine kleine Bosheit, fuhr aber, als er die unbefriedigte Miene seines Reisegenossen sah, gleich gutmütig fort: »Für euch hat wohl der Autor der ›Facetien‹ mindere Anziehungskraft als Herrn Bernardos schwarzäugiges Töchterlein. Nun, diese werdet Ihr morgen bei dem Lanzenrennen sehen, das Seine Magnifizenz zu Ehren unseres Herrn veranstaltet. Ich höre soeben, daß Fräulein Lucrezia den Sieger krönen soll. Wenn also Euer bewährter Ruhm Euch treu bleibt, so werdet Ihr meine Wenigkeit morgen nicht mehr zu beneiden brauchen. Und nun, verzeiht, ich muß noch zu unserem Herrn, der mich hier schlecht entbehren kann. Gute Nacht, Herr Ritter, und mögen Euch die Sterne günstig sein.«
Mit diesen Worten ging der Geheimschreiber eiligst von dannen.
– Das glänzende Kampfspiel war zu Ende, und Herr Bernardo hatte sein bewundertes Töchterlein zu Pferd durch die gaffende Menge nach Hause begleitet. Ihr reiches Festkleid lag schon wieder im Schrein, und Lucrezia war in die einfache Haustracht geschlüpft, die ihr nicht minder lieblich stand. Der Tag war nicht erschöpfend gewesen, denn die Sonne hatte sich wie aus Mitleid mit den eisenbeschwerten Reitern während des Turniers verborgen gehalten, dennoch brannten Lucrezias Wangen, und ihre Augen strahlten einen Glanz aus, vor dem sie im Spiegel selber erschrak. Eine Stimme lag ihr in den Ohren, die sie heute zum ersten Male gehört hatte, aber nie wieder vergessen zu können glaubte, deren Klang sie noch in der Einsamkeit wie mit körperlicher Gegenwart umschwebte.
»Möchte es nicht das letzte Mal sein, daß meine Augen Euch erblicken!« murmelte sie vor sich hin, und suchte den fremdartigen Ton der Stimme nachzuahmen, die diese Worte gesprochen hatte. Sie mußte sich dabei ein bräunliches, wohlgeformtes Gesicht vorstellen, das unter dem hohen Helm mit Rehgeweih zuversichtlich zu ihr aufblickte. Sie hörte wieder das Stampfen und Wiehern der Pferde, sah das funkelnde Waffengewühl und den Staub der Arena und folgte unverwandt jenem Helme mit Rehgeweih, der blitzartig da und dort auftauchte, alle anderen Helmzeichen weit überragend. Es waren schlankere, schönere Gestalten auf dem Kampfplatz als dieser Fremdling und Halbbarbar, dessen herkulischer Kraft auch von den eigenen Landsleuten keiner ganz gewachsen war, aber die Menge schien den blonden Deutschen vor allen anderen zu bevorzugen, denn sie grüßte sein Erscheinen immer mit hellem Jubel. Lucrezia wußte selber nicht, warum ihre Augen suchend umherliefen, sobald das Rehgeweih verschwand, und wie es kam, daß sie keinem Gang mit rechter Aufmerksamkeit folgen konnte, an dem der Träger dieses Zeichens nicht beteiligt war. Wenn er als Sieger vor ihr erschien und seine Augen fest auf die ihrigen heftend leise sagte: »Nicht zum letzten Male, Madonna!« so wünschte sie ihn beklemmt und unruhig weit hinweg, sobald er sich aber vom Kampfplatz entfernte, hatte das ganze Schauspiel seinen Reiz verloren. Für die Artigkeiten ihrer Landsleute, die wie immer mit übertriebenen Huldigungen nicht kargten, hatte sie heute nur eine Regung der Ungeduld, weil ihr dadurch der Magnet ihrer Augen entzogen ward.
Als nun endlich der letzte Gang, das große und nicht gefahrlose Lanzenrennen begann und sie auch den Rechberger wieder in die Schranken reiten sah, siegesgewiß den Hals seines starken Tieres klopfend, da wartete sie mit solcher Unruhe auf die Entscheidung, als wäre sie selbst als letzter und höchster Kampfpreis gesetzt. Sie hatte keinen Sinn für all den Aufwand von Waffenkunst, der vor ihren Augen entfaltet wurde, sie nahm keinen Teil an der brennenden Frage, ob die Barbaren ihren Landsleuten an Stärke überlegen seien, und ob die Florentiner wiederum jene an Gewandtheit überträfen, es beschäftigte sie nicht einmal, daß der fremde Graf mit der dunklen Kleidung und dem ernsten Gesicht sich diesmal selbst mit einem der Florentiner Herren maß; sie verfolgte immer das Rehgeweih und den Schild mit den züngelnden Rechbergischen Löwen. Sie meinte noch in der Erinnerung die Gewalt der Stöße, das Splittern der Schäfte, das grausame Aufeinanderprallen der Pferde zu vernehmen und das ängstliche Klopfen ihres eigenen Herzens, bis der Herold als Sieger den blonden Deutschen mit dem unaussprechlichen Namen verkündete und die Bühne von dem Jauchzen, Stampfen und Tücherschwenken der Menge wankte. Ihre Blicke hatten sich umflort und ihre Hände gezittert, als sie ein Kränzlein lebendiger Rosen mit goldenen Blättern an der Lanzenspitze des Junkers befestigte, und es war ihr, als habe sie mit diesem Kränzlein das eigene Ich hinweggegeben. Er aber lächelte siegesfroh, blickte ihr mit den guten blauen Augen fest ins Gesicht und sagte mit seinem fremden Akzent: »Madonna, ich hoffe, Euch wiederzusehen.«
Ein Florentiner hätte sich schwungvoller und zierlicher ausgedrückt, aber die stete Wiederholung der schlichten Worte, als ob der Sprecher nichts zu denken noch zu sagen vermöge als nur das eine, den Wunsch, sie wiederzusehen, hatte sie erschüttert und erschreckte sie zugleich mit der Ahnung, daß diese unwiderstehlich starken Arme nun auch sie ergreifen und nicht wieder freigeben würden. Doch während sie sich gegen diesen Zwang zu wehren suchte, freute sie sich selbst im stillen, daß heute abend der unaussprechliche Name des Fremdlings in aller Munde war, als ob sie selber an seinem Triumph einen Teil hätte.
Gleichzeitig ereignete sich der seltsame Fall, daß des Vaters Gedanken nicht minder lebhaft mit dem anziehenden Fremdling beschäftigt waren als die der Tochter; freilich aus sehr verschiedenem Grund. Seit er die Nachricht von jenen vergrabenen Bücherschätzen auf Schloß Stauffeneck erhalten hatte, war in Bernardos Seele die fast abenteuerlich kühne Hoffnung aufgekeimt, daß der verschwundene Kodex vielleicht mit in jener Truhe liege. Es war zuerst nur eine Eingebung des roten Lutz gewesen, die der Gebieter selbst belächelte; aber in langer Nacht hatte er die Ortsnamen, die fest in seinem Gedächtnis hafteten, mit den Angaben über den letzten Verbleib des Manuskriptes verglichen, und zu seiner eigenen Überraschung stimmten sie wunderbar. In seinen schlaflosen Grübeleien hatte er noch dem Zweifel Raum gegönnt, aber am Morgen, als die freudigen Lichtfluten durch das Fenster strömten, öffnete er sein Herz der frohen Überzeugung, daß es der Schatten des großen Römers selber sei, der aus dem Munde eines barbarischen Kriegsknechts um Erlösung flehe.
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