Er hatte eine Familie, und die Immobilien kosteten mehr als sie einbrachten. Der Eckball flog viel zu weit und landete im Aus, ohne dass er von irgendjemandem berührt wurde. Aber Reiter hatte gelernt, geduldig zu sein. Es ergaben sich immer Chancen. Selbst in der 92sten Minute. Es stellte sich heraus, dass er so lange nicht zu warten brauchte. Als seine Leute einen Konter nach vorne setzten und den Ball schon im Mittelfeld dümmlich verloren, kam die Situation, auf die er gewartet hatte. Der Ball wurde außen auf Hach gespielt, der zum ersten Mal in diesem Spiel einen gescheiten Ball in den Strafraum brachte. Während Reiter den Ball auf sich zufliegen sah, überlegte er, was besser sei: ihn einfach durchzulassen oder ihn selber reinzumachen. Es ging um Sicherheit. Er musste sein Leben planen. In den Interviews sagte er immer, wie alle anderen auch, dass es nur um den Verein ginge, aber jeder wusste, dass das Quatsch war. Der Verein würde immer weiter bestehen, würde selbst mit den versteckten Millionen an Schulden nicht untergehen. Irgendein bekloppter Investor fand sich immer. Für einen alternden Spieler fanden sich aber keine Investoren. Er musste planen. Und er plante die elegantere Lösung. Er trat am Ball vorbei, sodass der Peruaner frei zum Schuss kommen konnte. Allerdings hatte er die Dummheit des Mannes unterschätzt. Dominguez war so überrascht, dass der Ball zu weit von seinem Fuß absprang. Die anderen kamen zurück, die Situation war bereinigt.
Noch 5 Minuten. Immer noch genug Zeit.
Als der Mann mit dem Koffer zum ersten Male gefragt hatte, hatte sich Reiter angewidert abgewendet. Aber dann war das mit dem Knie passiert, und Reiter hatte erlebt, wie kurzweilig Erfolg sein kann. Er machte es nicht für den Kick, wie dieser schwachsinnige Schiedsrichter damals. Er machte es für hartes Geld. Zusätzlich zu dem Geld aus dem Koffer setzte er über einen Freund in Frankreich selber hohe Einsätze für späte Tore. Gottseidank konnte er Martin trauen. Um seine Rente brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Er würde noch ein bis zwei Jahre spielen, irgendwann würden sie ihn hier rausschmeißen. Keiner würde etwas über irreguläre Spielverläufe sagen, aber sie würden ihn mit argwöhnischen Augen beobachten und dann irgendwann im gegenseitigen Einvernehmen entlassen. Dann würde er noch ein Jahr in der zweiten Liga spielen, bis er genug zusammen hätte.
Was machten denn Johnson und Vollmer nur? Die drückten nach vorne. Er hatte fest damit gerechnet, dass das Team in den letzten Minuten zusammenbrechen würde. Die Vorbereitung war miserabel gewesen. Erst in den letzten zwei Wochen hatten sie Kondition gemacht, da war es schon viel zu spät. Aber die Jungs drückten und die anderen schienen sich einfach nicht befreien zu können. Es würde nicht gut kommen, wenn er dem Mann mit dem Koffer erklären müsste, dass es nicht geklappt hatte.
Und wieder einmal zeigte sich, dass die Sorge unbegründet war. Plötzlich schossen drei Pfeilspitzen in die eigene Hälfte: halbrechts, rechts und links außen. Kevin und er waren alleine. Um sicherzugehen orientierte er sich in die Mitte und deckte den Peruaner. Der Linksaußen kam an den Ball und knallte diesen aufs Tor. Keule streckte sich und lenkte den Ball an den Pfosten. Wie in Zeitlupe sah er ihn auf sich zukommen. Sein erster Instinkt war, den Ball einfach reinzumachen, doch das wäre zu auffällig. Hinter ihm kam Dominguez angelaufen. Er drehte sich weg und fiel hin, sodass Dominguez den Ball nur noch reinzumachen brauchte. Dann der Pfiff. Der Schiedsrichter pfiff Foul. Oh Gott, was für ein Schwachsinn. Doch Reiter beschimpfte den Peruaner vorsichtshalber noch ein bisschen. Beschwichtigend bewegte der Schiri seine Hände auf und ab. Dann blickte er auf die Uhr und ließ Reiter den Freistoß treten. So eine verdammte Scheiße, dachte Reiter. Das wird nichts mehr. Es halfen nur noch drastische Maßnahmen. Kevin stand links und er schob ihm den Ball zu. Zu langsam. Das musste selbst der Peruaner merken. Und er tat es. Drehte sich um und bewegte seine kleinen, dünnen Beine in Richtung Ball, rannte mit ihm auf das Tor zu und schob ihn in die linke, untere Ecke. Reiter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und fiel theatralisch auf die Knie. Im Stadion war es totenstill. Er kippte nach vorne über und schielte auf die jubelnden Spieler der gegnerischen Mannschaft. Das Tor wurde gegeben. 1:0 in der 93. Minute. Perfekt. Es war das perfekte Spiel, auch wenn das triumphierende Gesicht des Peruaners, der sich nun für den Größten hielt, nur schwer zu ertragen war. Es war perfekt. Er brauchte die Sicherheit. Es hatte nichts mit dem Kick zu tun.
2. Spieltag – Das Mikrofon
Noch einhundert Meter. Dass Triumph und Demütigung so nah beieinanderliegen konnten. Noch vor zwei Minuten hatte er in der Jubeltraube gelegen, geherzt und gedrückt von seinen dreckigen, schweißnassen Mitspielern. Jetzt der Gang nach Canossa. Er sah die gierig glänzenden Augen der Reporter, ihre gesichtslosen Kameramänner dahinter, die ihre massiven Geräte wie Geschütze schwenkten. Er würde vorbeigehen. Kontaktsperre, oder so. Kein Kommentar. Danke, heute nicht.
Dieser Absturz von ganz oben. Genial hatte er das Spiel in seine Hand genommen, geleitet, geführt, wie ein Dirigent, nur noch schöner, noch geschickter, denn kein Dirigent spielt gegen ein anderes Orchester. Er war der Bernstein des Rasens. Rattle. Karajan. Der perfekte Sechser. Und heute hatte er seinem Können die Krone aufgesetzt, indem er zwei Tore gemacht hatte. Nur reden, das konnte er nicht. Wenn sich die Kamera auf ihn richtete, dann stockte ihm der Atem, dann leerte sich sein Sprachzentrum in ähnlicher Geschwindigkeit wie das Stadion jetzt nach dem Spiel. Er konnte nicht reden, hatte es nie gekonnt und war mittlerweile nicht nur zu einem genialen Mittelfeldregisseur geworden, sondern auch zu einem meisterhaften Vermeider von Interviews. Aber heute? Es sah schlecht aus. Sie glotzten schon zu ihm herüber. Er schluckte und fasste einen tollkühnen Entschluss.
Nein, er würde einfach hingehen und sich den Fragen stellen. Wie die anderen. Ein paar Plattitüden, der Mannschaft danken und so weiter. Wir haben das Spiel von Anfang an beherrscht, mein Anteil war auch nicht größer als der der anderen. Was war daran so schwer? Lächeln. An die Tore denken. Den Geruch des Rasens wahrnehmen. Lächeln.
Noch fünfzig Meter. Das Rudel mit den dicken Mikrofonen fixierte ihn bereits. Sie schwenkten ihre Oberkörper in seine Richtung. Sie schauten. Gierig, mit sabbernden Lefzen.
Seine Familie hatte einen Hund gehabt, damals, einen kleinen Terrier, der hatte beim Essen immer treudoof vor ihnen gesessen, ganz still, mit seinem herzerweichenden Blick. Dummes Tier, hatte der Vater gesagt, aber Benni fand ihn nicht dumm. Er brauchte nicht zu reden. Man wusste immer, was er wollte. Benni war mit ihm oft in den Wald gegangen. Der Schwanz hatte gewedelt, wenn das Stöckchen wurfbereit in seiner Hand lag. Es war einfach gewesen. Er lachte. Ja, er würde sich da hinstellen, treudoof gucken und treudoof mit dem Schwanz wedeln. Irgendwelche Fragen? Danke, tschüss.
Oder er würde einfach über die Tore reden. Wie der Ball in den Sechzehner fliegt und rausgehauen wird und er, Benni, genau da steht, in zentraler Position im Rückraum und alle drehen sich zu ihm um und schauen ihn an. Und hier auf dem Grün ist er der König, hier ist er allmächtig. Und wie die Zeit stehen bleibt und er sieht, dass sich vor ihm eine Lücke auftut. Er kann sich den Ball noch einmal zurechtlegen, ein kleiner Stoß mit dem Außenrist, fast eine zärtliche Berührung und dann zimmert er das Ding direkt in den Winkel. Höhenluft. Triumph. Das könnte er erzählen.
Noch zehn Meter und der Schweiß rinnt ihm über die Stirn. Der Trainer der gegnerischen Mannschaft wird vom Mann mit dem Mikro weggeschickt wie ein abgenutztes Spielzeug.
Читать дальше