Time Zero: 5 Minuten
Wieder hört man das laute Dröhnen einer Explosion.
Diesmal nicht unter uns, sondern aus der Ferne, aber stärker als vorher.
Die Menschen, denen ich gefolgt bin, sind am Boden zusammengebrochen. Einige rufen um Hilfe. Nur wer soll schon kommen? Andere liegen still da.
Ich fliege den Fahrstuhlschacht hinauf und lasse die Menschen hinter mir. Hoch und höher, bis ich ihr Weinen nicht mehr höre.
Der Schacht wird immer wieder von kleineren Explosionen erschüttert.
Als ich endlich oben ankomme, versperrt mir der Fahrstuhl den Weg.
Nein! Lasst mich raus!
Ich breite mich ganz dünn über den Boden des Fahrstuhls aus, über die Wände, fahnde, forsche.
Und dann finde ich etwas. Einen Riss im Boden des Fahrstuhls. Keine Ahnung, ob er schon immer da war oder von der Explosion stammt.
Unter mir zischt es. Und als wären der Luft Klauen gewachsen, packt sie mich und zerrt mich in die Tiefe. Vergeblich versuche ich, mich an den Schachtwänden festzukrallen, falle und falle, bis mir eine Hitzewelle entgegenschlägt und mich wieder nach oben katapultiert. Ein Flammenball, eine Feuerwand.
In Feuer gehüllt, finde ich den Riss aufs Neue. Ist er groß genug? Ich mache mich klein und dünn und schiebe mich durch den Schlitz. Überall Flammen. Das Metall verformt sich, der Riss wird schmaler. Mehr und mehr von mir schlüpft hindurch. Nun verspüre ich einen Schmerz von der Hitze des Feuers, er wird stärker. Schmerz wie bei der Heilung, stechend und brennend. Zum ersten Mal spüre ich überhaupt wieder etwas.
Auch wenn ich die Flammen schon mal überlebt habe, so ausgebreitet und dünn schaffe ich es nicht. Ich muss mich zu einer Kugel zusammenrollen und schleunigst weg hier, sonst vernichten sie mich.
Immer noch besser, als unterirdisch eingesperrt zu sein.
Doch dann habe ich es ganz plötzlich geschafft! Ich bin durch!
Bin ich in einem … Haus? Nein, in einer Scheune. Sie wirkt wie eine ganz gewöhnliche Scheune aus Holz und Stein, etwas verfallen vielleicht.
Der Fahrstuhl war hinter Strohballen versteckt, die nun lichterloh brennen. Flammen schießen in die Höhe.
Und auf der anderen Seite der Scheune ist eine Tür offen.
Frische Luft kommt herein. Am Himmel steht der Mond, aber so hell wie es ist, kann es nicht Nacht sein.
Ich stürze zur Tür.
KILLIN, SCHOTTLAND
Time Zero: 2 Minuten
Mum kommt zurück ins Zimmer. Sie legt die Hand auf meine Schulter, als wüsste sie, dass ich das jetzt brauche. Durchs Fenster sehen wir, wie Kai auf seinem Motorrad davonbraust. Werde ich ihn je wiedersehen?
Ich friere zwar nicht, aber trotzdem habe ich eine Gänsehaut und zittere. Heute kommt mir die Welt viel gefährlicher vor, gefährlicher als gestern. Aus unerklärlichen Gründen mache ich mir Sorgen um Kai, um mich selbst und um alle, die mir etwas bedeuten.
Tschüss, Kai. Pass auf dich auf. Komm bald zurück zu mir .
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
TIME ZERO
Ich fliege nach draußen.
Hinter mir steht die Scheune in Flammen. Unter mir rumpelt und poltert die Erde. In der Ferne glüht der Himmel rot.
Aber mir ist das egal.
Ich bin vor Freude ganz aus dem Häuschen, hüpfe ausgelassen durchs Gras. Mache Saltos in einem seltsamen Halbdunkel, das mehr Nacht als Tag ist.
ICH BIN FREI!
Entdeckungen sind selten geplant. Mit dem rechten Augenmerk betrachtet, kann ein Fehler ein Multiversum an Möglichkeiten eröffnen .
Xander, Manifest des Multiversums
»Wach auf. Bitte wach auf, Sharona.«
Mums Stimme ist durchdringend, aber ich bin total groggy, weil ich so wenig geschlafen habe. Und sofort überkommt mich ein freudiges Gefühl, wenn ich an den Grund denke. Ich bin wach geblieben, weil ich auf Kais Nachricht gewartet habe. Die kam dann auch: Liebste Shay, ich bin gut angekommen. Pass auf dich auf, Kai .
Und ich habe mich so gefreut, habe die Worte wieder und wieder gelesen, bis ich eingedöst bin.
»Shay?« Ich öffne ein Auge. Es ist noch dunkel. Und ist heute nicht Sonntag?
Hastig setze ich mich auf. »Was ist denn? Ist was passiert?«
Mum steht noch in den Klamotten von gestern in meiner Zimmertür. »Komm und schau dir die Nachrichten an. Irgendwas geschieht da auf den Shetlandinseln.« Aufgeschreckt durch den panischen Unterton in ihrer Stimme, reibe ich mir die Augen, ziehe einen Bademantel über und stolpere hinter ihr die Treppe hinunter zum Fernseher. Mums Bruder Davy wohnt mit seiner Frau und drei Kindern auf den Shetlandinseln.
Ich setze mich neben Mum aufs Sofa und kuschle mich an sie.
Die Bilder in den Nachrichten erinnern an einen Katastrophenfilm. Das kann doch nicht wahr sein! Ist es aber.
Meterhohe Flammen schießen in den Himmel. Selbst der Erdboden scheint zu brennen. Häuser stehen in Flammen, vor Shetlands Nachthimmel wird die gesamte Szenerie von einem gespenstisch roten Feuer erleuchtet. Ich nehme Mums Hand.
»Hast du angerufen?«
»Ich hab’s versucht. Das Telefonnetz ist tot. Davy geht auch nicht ans Handy.«
»Was ist passiert?«
Mum schüttelt ungläubig den Kopf. »Der Öl-Terminal in Sullom Voe ist explodiert. Das Feuer hat sich ausgebreitet. Keiner weiß warum. Oder sie sagen es nicht«, flüstert Mum mit tränenerstickter Stimme.
Den Rest der Nacht verfolgen wir die Berichterstattung. Ist es ein Terroranschlag? Oder ein schrecklicher Unfall? Die Reporter können nur mutmaßen. Man weiß, dass es eine gewaltige Explosion gegeben hat und dass Shetlands Ölvorräte – die per Schiff oder Pipeline von den Bohrinseln der Nordsee zum größten europäischen Öl-Terminal geliefert werden – in Flammen stehen. Sicherheitsvorkehrungen, die einzelne Abschnitte der Pipeline hätten abschotten sollen, haben versagt. Die Bohrinseln brennen ebenfalls.
Und das ungewöhnlich schöne trockene Wetter lässt alles wie Zunder entflammen. Selbst der Rasen hat Feuer gefangen. Die Insel verfügt nicht über die Kapazitäten, mit einer Katastrophe solchen Ausmaßes fertig zu werden. Evakuierung ist die einzige Möglichkeit.
Es ist bereits ein Notruf an umliegende Schiffe rausgegangen, die den Inselbewohnern zur Hilfe kommen sollen. Mum und ich kleben am Bildschirm, Stunde um Stunde. Als die Sonne aufgeht, hoffen wir noch immer, meinen Onkel und meine Tante mit den Kindern in ein Boot oder einen Hubschrauber steigen zu sehen. Fischerboote und Kähne in sämtlichen Größen – selbst ein Kreuzfahrtschiff – helfen, die Menschen zu evakuieren. Gebannt halten wir Ausschau.
Wir können sie nirgends entdecken.
Die Freude darüber, meinem unterirdischen Gefängnis entkommen zu sein, lenkt mich nicht lange ab. Die Wachen haben gesagt, Dr. 1 wohnt auf der Insel und dass sie jemanden zu ihm nach oben geschickt haben, als die Kommunikation unterbrochen war.
Читать дальше