Nach der Dusche ziehe ich mir blitzschnell Jeans und Pulli über. Ich will nicht allein sein, sondern bei Kai. Um mich sicher zu fühlen.
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
Time Zero: 6 Stunden
Weil mir nichts Besseres einfällt, bleibe ich bei den Wachen vor der Tür. Wenn jemand was erfährt, dann die. Einer der Wachmänner starrt auf ein Control Panel, darauf blinkt erst ein roter Knopf, dann noch einer.
Die Männer öffnen die Tür. Nun brüllt niemand mehr herum, die Leute sind kleinlaut geworden. Ein paar Wachmänner gehen hinein und halten eine Art Scanner hoch. Bei ein paar Leuten bleiben sie stehen, reden mit ihnen. Darunter ist auch Schwester 11. Die Angesprochenen sollen aufstehen und mitkommen. Als sich einer aus der Gruppe weigert, packen die Wachen ihn am Arm und zerren ihn mit sich.
Alle weichen zurück, als die Gruppe die Cafeteria verlässt.
Ich laufe mit. Sie werden nicht ins Kino gebracht. Stattdessen geht es in eine große Halle mit Torstangen und markierten Feldern auf dem Boden. Eine Turnhalle.
Auf dem Boden liegen Menschen. Manche still und reglos. Andere krümmen sich schreiend. Die Gruppe um Schwester 11 schreckt zurück. Noch fühlen sie sich nicht krank, nicht sehr, sie haben nur leicht erhöhte Temperatur.
Doch Schwester 11 läuft hinein. Schüttelt empört den Kopf. »Wo sind denn die Ärzte?«, fragt sie.
Eine Frau, die bibbernd am Boden liegt, reagiert. »D-d-d-der letzte ist gerade gestorben.«
Schwester 11 beugt sich zu der Kranken hinunter. »Jan?«
Jan schließt die Augen, zittert und stöhnt.
Aufgebracht läuft Schwester 11 zur Tür und hämmert dagegen. »Wir brauchen hier Schmerzmittel. Bringt mir Morphium und Spritzen.«
»Alles aus«, ruft jemand von draußen.
Das gibt den Menschen in der Turnhalle den Rest, das Gejammer wird noch eine Spur lauter.
All die Menschen hier haben es nicht besser verdient.
So viele Menschen.
Sie schreien vor Schmerzen, manche weinen einfach nur. Qual und Leid übertragen sich von den Kranken auf den Raum und lassen ein neues Wesen entstehen, das wächst und wächst, während die Menschen immer kleiner und nichtiger werden.
Nur ein paar haben Glück. Die rühren sich nicht mehr. Die sind tot.
Das Leid, das sie anderen zugefügt haben, stürzt nun auf sie selbst herein. Aber wer hat damit angefangen, wer würde das mit Absicht anderen antun? Warum?
Schwester 11 mag ja hergekommen sein, weil sie für ihre Enkelin ein Heilmittel gegen den Krebs gesucht hat, nur ist das sicher nicht der einzige Grund, aus dem Dr. 1 diesen Ort geschaffen hat. Wer ein Mittel gegen Krebs findet, wird reich, reicher als jeder Popstar, Fußballspieler … reicher als die Queen.
Mir wird dieses ganze Leid zu viel. Ich will weg hier. Aber auf dem Weg zur Tür bleibe ich stehen.
Schwester 11 singt, so wie sie für mich gesungen hat. Andere stimmen mit ein. Und die anschwellenden Stimmen besänftigen das Schmerzmonster, jedenfalls ein wenig.
Wer ist nur diese Frau, die mal ihre Patienten tröstet, um sie dann wieder mit irgendwas zu infizieren und umzubringen?
Ich schüttle den Kopf. Ich verstehe sie nicht. Und mich auch nicht, denn ich hoffe, dass sie nicht stirbt.
Aber das wird sie und dabei will ich nicht zusehen. Mir reicht das alles hier. Ich schlüpfe unter der Tür hindurch an den Wachen vorbei. Hoffentlich gibt es am Ende noch jemanden, der für Schwester 11 singt.
KILLIN, SCHOTTLAND
Time Zero: 5 Stunden
Als ich mit nassen Haaren aus der Dusche komme, bin ich plötzlich schüchtern. Kai sitzt verloren neben Ramsay auf dem Sofa. Um seine Lippen spielt ein unsicheres Lächeln.
Zögerlich streckt er die Hand nach mir aus. Unter seinem Blick werde ich verlegen. Ich setze mich dicht neben ihn. Zu dicht? Schnell rücke ich ein wenig ab, aber er tastet nach meiner Hand. Und als er seine warmen Finger mit meinen verschränkt, erwacht in mir ein ganz neues und noch viel wärmeres Gefühl.
»Wie geht’s dir?« Besorgt schaut er mich an.
»Gut«, sage ich. Er hebt eine Braue, als glaubte er mir kein Wort. »Einigermaßen.« Natürlich binde ich ihm nicht auf die Nase, dass jetzt, wo ich Händchen haltend neben ihm auf der Couch sitze, es mir tatsächlich gut geht. Mehr als gut.
»Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagt er.
»Wofür denn?«
Er schüttelt den Kopf, ihm fehlen die Worte. Aber ich warte ab, sage nichts. »Weil ich vollkommen die Kontrolle verloren habe«, sagt er schließlich. »Erst ist die Wut mit mir durchgegangen und dann …« Er zuckt die Achseln, beendet den Satz nicht.
»Also ich fand’s echt nett, dass du dem Loser aufs Maul gehauen hast. Aber einmal hätte gereicht.«
»Ich weiß. Jetzt weiß ich das auch.« Kai runzelt die Stirn. »Irgendwie habe ich dich und meine Schwester durcheinandergebracht. Was mit ihr geschehen ist und mit dir heute.«
»Ich bin kein Kind. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Klar.« Er grinst verschmitzt. »Ich habe ja gesehen, wie du ihm auf den Fuß getrampelt bist. Wetten, dass der morgen keinen Schritt mehr tut!«
»Wolltest du nicht gerade noch was sagen?«
»Ja, das danach tut mir auch leid.«
Es dauert, bis der Groschen fällt. »Was, weil du geweint hast? Weil du ein Mensch bist?«
»Ja, genau. Viel zu viel Mensch. Das muss aufhören.« Jetzt blitzt ihm der Schalk aus den Augen.
»Du kannst doch nicht ständig deine Gefühle unterdrücken. Sonst platzen sie irgendwann einfach raus. Davon kann Duncan jetzt ein Lied singen.«
»Heißt der Typ so?«
Ich nicke.
»Meinst du, dass der dich jetzt in Ruhe lässt? Sagst du mir Bescheid, wenn er noch mal Probleme macht?«
»Duncan ist ein Feigling. Nach der Aktion heute wird er einen großen Bogen um mich machen.« Hoffe ich. Bloß mit ein bisschen Fantasie kann mir Duncan das Leben in der Schule auch so zur Hölle machen. »Über den will ich nicht mehr reden.«
»Worüber willst du denn reden?«
Im Grunde gibt es nur einen Menschen, über den Kai dringend reden müsste, aber garantiert nicht reden will. Ich gebe mir einen Ruck: »Erzähl mir von deiner Schwester.«
SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND
Time Zero: 4 Stunden
Lautes Knallen im Gang. Schüsse?
Schreie ertönen, nur klingen sie anders als die der Kranken. Überrascht. Erstickt. Weitere Schüsse.
Ich folge den Geräuschen. Der Weg führt zurück zur Cafeteria. Die Türen stehen offen, ein Wachmann liegt erstochen davor, das Messer ragt noch aus seinem Körper. Sein Schutzanzug ist zerrissen, Blut sickert aus der Wunde.
In der Cafeteria liegen weitere Menschen blutend und reglos am Boden.
Zwei Wachen haben die Gewehre auf die wenigen verbliebenen Menschen drinnen gerichtet. Wo sind die anderen?
Wieder folge ich den Geräuschen. Schnelle Schritte. Rufe. Schüsse. Noch ein Toter am Boden und noch einer. Ich überhole die Wachen, die eine Handvoll Menschen um die Ecke jagen und in die Arme einer weiteren Gruppe mit Wachmännern treiben. Die Menschen weichen zurück, doch nun sind sie gefangen zwischen den beiden Wachmannschaften. Obwohl sie sich mit erhobenen Armen ergeben, fallen Schüsse, ertönen Schreie. Die Menschen gehen zu Boden.
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