Wirru schwankte leicht vor Müdigkeit. Ab und zu stolperte er, stieß gegen Steine und Grasbüschel. Doch seine Mutter achtete darauf, daß er nicht zurückblieb. Sie hielt ihren Platz in der Rangordnung, direkt hinter der Leitstute. Wirru mußte wohl oder übel mitlaufen.
Inzwischen war es fast dunkel geworden. Nur undeutlich hoben sich die Silhouetten einiger Pappeln vom Horizont ab. Es raschelte im Gras zwischen den Büschen. Die Nachttiere, die während der Tageshitze in ihren Erdbauen schliefen, gingen auf Nahrungssuche.
Wirru sah nur ihre flüchtigen Schatten, wenn sie den Hufen der Wildpferde auswichen. Und manchmal scheute er erschrocken. Doch seine Mutter beruhigte ihn.
So näherten sie sich allmählich der Pappelgruppe. Hier stand das Gras dichter. Die Leitstute blieb stehen, wartete, bis auch die letzten der zwölf Tiere herangekommen waren. Der Leithengst blieb abseits, übernahm von einer Bodenwelle aus die erste Wache.
Auch die Leitstute legte sich nicht. Sie ruhte im Stand mit gesenktem Kopf, halbgeschlossenen Augen und zur Seite gedrehten Ohren; hin und wieder schlug sie leicht mit dem Schwanz. Die anderen schliefen flach in Seitenlage, die Beine weit von sich gestreckt.
Nur Wirrus Mutter lag seitlich auf dem Bauch mit untergeschlagenen Beinen. So konnte sie sofort aufspringen, wenn Gefahr drohte. Und sie beobachtete ihr Junges.
Wirru zögerte noch. Doch die Müdigkeit zwang ihn nieder. Langsam knickte er mit den Hinterbeinen ein, ging zu Boden, spürte das feuchte Gras an seinen Flanken. Aber den Kopf behielt er oben, lauschte auf die Stimmen der Nacht. Angst stieg in ihm auf, die Angst vor dem Dunkel. Er schnaubte leise.
Am nachtklaren Himmel sah er das kalte Flimmern der Sterne, hörte das Rauschen des Windes in den Pappelzweigen, das Geräusch ferner kleinfüßiger Schritte. Erst als seine Mutter sich halb aufrichtete und ihren Kopf auf seine schmalen Schultern legte, streckte auch er sich aus. Im beruhigenden Geruch ihres warmen Leibes schlief er ein.
Morgenlicht glitt über die Hügel, warf lange Schatten in die Täler. Schläfrig blinzelte Wirru in die Sonne. Noch war er nicht ganz wach, hörte noch immer das Getrappel von Hufen aus seinem Traum. Doch er träumte nicht mehr. Nur das Hufgetrappel hielt an, wurde lauter. Dann erkannte Wirru im Schlagschatten der Pappeln, wer da trappelte.
Die kleine Stute Senja galoppierte übermütig um ihre Mutter, schlug mit den Hinterhufen aus, wälzte sich im Gras und sprang wieder auf. Dabei kam sie Wirru bedenklich nahe. Wirrus Mutter drohte mit entblößtem Gebiß. Aber die kleine Stute entfernte sich schon wieder. Und Wirru blickte ihr nach.
In großer Höhe kreiste ein Steppenadler, lauerte auf Bobaks, die Murmeltiere der Steppe, die in der Morgenwärme ihre Erdhöhlen verließen. Von irgendwo ertönte ein scharfer Pfiff, ein Warnsignal. Die Bobaks verschwanden blitzartig in ihren Fluchtröhren. Der Steppenadler drehte ab.
Wirru interessierte sich nicht für kreisende Vögel und flüchtende Murmeltiere. Er hatte Hunger und Durst. Noch ein wenig steif vom Schlaf, erhob er sich, nach Fohlenart zuerst mit den Hinterbeinen. Zielstrebig suchte er nach seiner Milchquelle, ließ seine Nüstern schnuppernd über den Bauch seiner Mutter gleiten und trank.
Doch seine Mutter wirkte unruhig, schlug mit dem Schwanz heftig nach Insekten, zuckte mit der Haut und drängte sich an den Stamm einer Pappel, um sich das Fell zu scheuern. Wirru fand das lästig. Ungeduldig rannte er ihr nach. Er war noch lange nicht satt.
Viel Zeit aber blieb ihm nicht mehr. Hier in der Nähe der Wasserlöcher schwirrte die Luft von Insekten. Sie plagten auch Wirru. Wütend wackelte er mit den Ohren und schüttelte sich. Endlich hatte er genug getrunken. Und er war froh, als die Leitstute in Richtung Wüste davontrabte.
Trotzdem blieb Wirru der letzte hinter seiner Mutter. Und als der Leithengst, der sichernd den Schluß der Herde bildete, an seine Seite kam, lief Wirru zutraulich ein paar Schritte neben ihm. Doch kaum wandte seine Mutter sich nach Wirru um, bedrohte sie angriffslustig den ihr weit überlegenen Hengst. Sie duldete niemand in der Nähe ihres Fohlens, auch den Leithengst nicht.
Erschrocken galoppierte Wirru los. Erst als seine Mutter ihren Platz in der Marschordnung nach der Leitstute eingenommen hatte und Wirru folgsam hinter ihr hertrabte, schien sie zufrieden.
Noch stand die Sonne nicht hoch. Kühler Wind blies von Nordost, trieb faserige Wolken vor sich her. Eine Schar Wildgänse zog von Süden über die Herde. Der Boden war steinig und nur spärlich bewachsen mit dürren Gräsern.
Ohne Aufenthalt trabte die Leitstute weiter. Zwar ernährten sich Wildpferde auch von hartem Gras, das jedes Hauspferd verschmähen würde, doch selbst die Wüstensteppe bot an manchen Stellen schmackhaftere Nahrung. Und das wußte die Leitstute. Sie bestimmte, wann und wo geweidet wurde. Nur bei Gefahr übernahm der Hengst die Entscheidung und schützte die Herde. Aber das Gelände hier blieb übersichtlich.
Das änderte sich erst, als zwischen einzelnen Sanddünen mit Saksaulsträuchern sich eine flache Senke ausbreitete. Hier reichte das Grundwasser bis dicht unter die Oberfläche, war der Bewuchs dichter und saftiger. Es duftete frisch nach jungem Grün.
Hungrig begannen die Stuten zu grasen. Der Hengst sicherte von einem Dünenkamm, bis auch er sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr drohte. Sein Schweif wehte im Wind.
Wirru fand das langweilig; er war ja satt. Aufmerksam beobachtete er die Gegend. Am Ende der Senke in der Nähe einiger Tamarisken entdeckte er etwas Ungewöhnliches. Dort lagerten ein paar Tiere, sehr große Tiere: mit bizarren Köpfen und seltsamen Höckern auf dem Rücken. Sie lagen friedlich nebeneinander. Es war eine kleine Herde wilder Kamele.
Das reizte Wirrus Neugier. Unbefangen trabte er auf die Kamele zu, während seine Mutter von ihm abgewandt mit gesenktem Kopf graste. Die Kamele blieben ruhig liegen. Nur der Kamelhengst musterte ihn gleichmütig mit großen Augen. Wildpferdfohlen hielt er wohl für harmlos.
Wenige Schritte vor den Kamelen blieb Wirru zögernd stehen, beäugte interessiert die eigenartig höckerigen Wesen mit der gespaltenen Oberlippe, die mit herabhängender Unterlippe ins Leere kauten. Gelassen kauten die Kamele weiter.
Plötzlich ertönte heftiges Hufgetrappel. Wirrus Mutter preschte in vollem Galopp heran, hinter sich eine wirbelnde Staubwolke. Verdutzt blickte Wirru sich um. Auch die Kamele hoben aufmerksam ihre Köpfe.
Schnaubend und mit angelegten Ohren schob sich die Stute zwischen Wirru und die Kamele, zeigte drohend ihre Zähne. Energisch drängte sie den widerstrebenden Wirru zurück zur Herde.
Wirru begriff allmählich: Zu wem auch immer er laufen wollte, die Stute, von der er Milch bekam, war dagegen. Und niemand sonst gab ihm Milch. Aber noch immer spürte er keine Bindung an seine Mutter.
Eine Woche später kannte Wirru sich aus, kannte den Hengst und die Leitstute und die anderen Stuten. Von nun an blieb er freiwillig bei seiner Mutter, suchte ihre Nähe, ihre Zärtlichkeit. Und jetzt duldete sie auch, wenn Wirru einmal zu anderen lief; er kam ja stets wieder zurück, wollte Milch und Geborgenheit.
Auch die Mutter der kleinen Stute schien nichts mehr dagegen zu haben, wenn die beiden jungen Fohlen miteinander spielten. In den letzten Tagen noch hatte sie Wirru ein paarmal wütend bedroht, als er sich näherte. Und Wirru war in hoppelndem Trab davongerannt, bis seine Mutter ihn wieder einfing.
Jetzt wurde er nicht mehr weggescheucht. Wohlig schnaufend wälzte er sich im taufrischen Gras, während Senja übermütig um ihn herumsprang und wiehernd in die Höhe stieg. Die beiden Mütter sahen geduldig zu.
An diesem Morgen war überhaupt einiges anders. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Und nach der Kühle der Nacht genoß Wirru die wärmenden Strahlen.
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