Ulsaker warf einen Blick auf die Zahlenkolonnen, die der Kellner auf Griggs Geheiss soeben addierte. „Sie sehen, Herr Doktor Griggs, wir haben den Wunsch, Ihnen ein Fiasko zu ersparen. Seien Sie nicht eigensinnig, lassen Sie’s gut sein.“ Und indem er mit einer kreisenden Handbewegung auf die Flaschenbatterie wies, erhob er sich. „Gute Nacht!“
Die vier gingen, von Direktor und Oberkellner eskortiert, dem Ausgang zu. Der Boy trieb die Drehtür wie einen Kreisel an.
Eine häubchengeschmückte Garderobiere erschien aus einem Winkel der Halle. Da sagte Griggs:
„Wo ist die Lounge?“
Die drei drehten sich wortlos zu ihm herum. Die Garderobiere wies irgendwohin, den Korridor hinunter, dorthin, wo ein paar spärliche Glühlampen in dunkle, fremde Gänge wiesen.
Kjelland ging mit entschlossenen Schritten die wenigen Stufen hinauf.
Aus dem Innern des Hauses kam, gedämpft und wie aus weiter Ferne, Musik und Lachen. Schwer und drückend lag die Luft über dem niedrigen Gang. Hier und da zweigten Türen ab, Glastüren, die zu unbekannten Räumen führten; Lichter blinkten verschlafen durch das leere Dunkel. Jeder Schritt schien die Trennung zu unterstreichen, die sich hier vollzog: zwischen den lichterfüllten Räumen dort hinten und dem schlafenden Hause, zu dem diese Treppen führten.
Ein Dienstbeflissener kam verschlafen hinter einer Statue hervor; ein Schalter klickte, gebliches Licht floss über die vier.
„Zur Lounge? Bitte, hier.“
Der Raum war lichtlos. Der Boy, gähnenden Protest im Gesicht, drehte den Kontakt.
„Sie ist nicht da“, sagte Kjelland.
„Es ist zwei Minuten vor der Zeit; Sie verlangen ein bisschen viel.“
Griggs sah sich um. „Wollen wir ins Bibliothekzimmer gehen? Es liegt vis-à-vis.“
Kjelland setzte sich unbehaglich in einen Korbsessel, so dass er den übrigen den Rücken drehte. Die drei schlossen die Tür hinter ihm, und eben trat Oevelund ins Bibliothekzimmer, als Ulsaker mit heiserer Stimme flüsterte:
„Sie kommt!!“
Die drei blickten den Korridor hinunter: die Dame, die dort schnellen Schritts die Stufen emporstieg, war die Baronin Laurgaard.
Alle blickten auf Griggs, der von der allgemeinen Erregung nichts zu spüren schien. Er drängte Ulsaker ins Bibliothekzimmer hinein; die andern folgten.
Die Baronin, ein wenig bleicher als vorhin, verlangsamte den Schritt. Sie blickte durch die Scheibe der erleuchteten Lounge; einen Augenblick blieb sie zögernd stehen. Aber schon war Kjelland ihrer ansichtig geworden. Er erhob sich. Während er fassungslos auf die Tür zuging, trat sie ein.
„Mein Gott“ — Oevelund fasste sich an die Stirn —, „bin ich denn ... bin ich denn ...? Das ist ein Wunder, das ist Hexerei! Die Baronin hat vor unseren Augen das Haus verlassen — und sie ist zurückgekehrt, wie Sie es uns prophezeit haben ... ich muss wohl sagen: wie Sie es ihr befohlen haben.“ Er fasste den Arzt bei den Armen: „Was bedeutet das, Griggs? Sind Sie ein Zauberer? Sie müssen es uns sagen. Sie müssen es uns erklären!“
Griggs blickte durch das Glas der Tür hinüber in die Lounge. Dort drüben standen Kjelland und Astrid sich gegenüber; er hatte ihre Hand in die seine genommen; er streichelte sie zärtlich und sprach, sichtlich stockend und verwirrt, auf sie ein. Sie hörte ihm zu, mit einem nachdenklichen und suchenden Lächeln, und während er sprach, wanderten ihre Augen hinüber zu der Glastür, auf der der Blick des Arztes ruhte.
„Ich will es Ihnen erklären“, sagte Griggs. „Aber nicht hier. Kommen Sie mit mir, in meine Wohnung. Dort wollen wir darüber sprechen.“
„Nun?“ fragte Oevelund.
Doktor Griggs zog den Stöpsel aus dem Kontakt, der seltsam kontrastierte mit dem italienischen Renaissancestil des Raumes. Das Summen des siedenden Wassers verstummte; dunkelbrauner Trank floss in die gläserne Maschine. Griggs füllte die Tassen und präsentierte fremdartiges Gebäck.
Kjelland stand die ganze Zeit unbeweglich gegen die Tür gelehnt. Der Duft des starken Mokkas, der das Zimmer erfüllte, lockte ihn an den Tisch. Er nahm die Tasse, trank sie in einem Zuge leer, und indem er sie klirrend auf den Untersatz stellte, wandte er sich plötzlich zu Griggs herum: „Astrid kennt Sie in der Tat nicht, Herr Doktor Griggs.“
Der Arzt sah ihn verwundert an.
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„Um es offen zu sagen,“ fuhr jener, ein bisschen verwirrt, fort, „ich hatte etwas Derartiges angenommen. Sie müssen das begreifen: man sucht den nächstliegenden Weg. Den geläufigsten. Ich hatte mir eine Art Erklärung gebildet: ich nahm an, es bestünde in Wahrheit irgendeine Beziehung zwischen Ihnen und der Baronin — eine zufällige natürlich, eine völlig unverfängliche —, und es sei Ihnen so durch einen Zufall, durch eine belanglose Kombination bekannt geworden, dass meine ... dass die Baronin Astrid aus irgendeinem Grunde um halb eins in die Lounge kommen würde. — Geben Sie mir eine Zigarette!“
Er griff nervös in die Dose, die Griggs aus der hochbeinigen Truhe nahm. „Nichts von alledem trifft zu. Ich habe Astrid über jede Einzelheit gefragt — warum sie hier sei, wie sie es ermöglicht habe, allein zurückzukehren — nach alledem habe ich mich erkundigt. Und, ich sagte es schon, auch danach, ob sie Sie kenne.“
Er rieb das Zündholz an, unter den Händen erlosch es ihm. Griggs reichte ihm seine brennende Zigarette.
„Sie hat nie Ihren Namen gehört — sie kann nicht erklären, warum sie ins Hotel zurückgekommen ist. Der Kammerherr hat sich vor ihrer Wohnung von ihr verabschiedet, sie ist die Treppe hinaufgegangen und hat ein paar Minuten gewartet. Dann hat sie der Zofe erklärt, sie habe ihr Handtäschchen, das einen wichtigen Brief enthalte, im Restaurant Français vergessen. Die Zofe sei natürlich erstaunt gewesen und habe sich erboten, für ihre Herrin den Brief zu holen; sie habe abgelehnt und sei auf die Strasse zurückgegangen. In der Vesterbrogade habe sie ein Auto angerufen.“
„Aber warum?“ fragte Oevelund kopfschüttelnd. „Was für eine Absicht hatte sie denn eigentlich?“
„Ja — das ist das merkwürdigste: darüber konnte sie sich selbst keine Rechenschaft geben. Ich habe sie natürlich darüber eindringlich befragt, und erst im Verlaufe meiner Fragen ist ihr die ganze Widersinnigkeit ihres Tuns so recht zum Bewusstsein gekommen. Seltsamerweise sagte sie mir: bis zu dem Moment, da sie in der Vesterbrogade ins Auto gestiegen ist, habe sie sich allen Ernstes eingeredet, sie müsse die Tasche mit dem Brief aus dem Restaurant Français holen. Dann, als das Auto wandte, sei ihr plötzlich eingefallen, dass das alles Täuschung wäre, völliger Unsinn; weder sei sie im Restaurant Français gewesen noch habe sie irgendwo eine Tasche und einen Brief vergessen. Schon habe sie die Hand nach dem Stopball ausgestreckt — mit unwiderstehlicher Gewalt habe etwas in ihrem Unterbewusstsein ihren Arm gelähmt. Es habe sie ins Hotel d’Angleterre gezogen — sie sagte: so, genau so müsse es sein, wenn ein Nachtwandler dem Mond entgegengehe. Ich dachte natürlich an Hypnose — aber sie lächelte darüber.
„Und dann fragten Sie sie nach Doktor Griggs?“ erkundigte sich Ulsaker gespannt.
„Ja. Ich stiess auf völliges Nichtverstehen. Allerdings erinnerte sie sich, Griggs gesehen zu haben, nachdem ich ihn ihr beschrieb. Aber das war alles; sie konnte nicht einmal sagen, ob er blond oder dunkel sei.“ Kjelland drehte den silbernen Ausguss der Maschine, um seine Tasse aufs neue zu füllen. „Das Weitere ist an Ihnen, Herr Doktor. Sie müssen uns erklären: Welche Macht ist Ihnen verliehen? Wie brachten Sie es fertig, die Baronin Laurgaard zu einer bestimmten Stunde an einen bestimmten Ort zu dirigieren?“
Griggs lehnte sich zurück und warf einen Blick auf das Halbrund des Plafonds, dessen Facetten sich in unendlicher Vielheit bis in die dämmernden Winkel fortsetzten.
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