„Nanu?“
„Das klingt vielleicht paradox, aber jede Erkenntnis ist, glaube ich, paradox. Sie brauchen sich nicht verzweifelt nach der Musik umzusehen, meine Herren, das Thema ist schon erledigt. Nur so viel darf ich Ihnen sagen: das Technische, der Apparat, die Maschine sind, wenn nicht alles täuscht, nur die Eierschalen, die dem jungen Kücken, genannt ‚Radio‘, noch anhaften, das Körperliche, aus dem es hervorgegangen ist und das es langsam im Begriff ist abzustreifen. In zwanzig Jahren werden wir per Radiowelle sprechen — ohne Telephon und ohne Kondensator und ohne Batterie, versteht sich, von Gehirn zu Gehirn.“
Oevelund blickte auf. „Das klingt nach Jules Verne.“
Der unsichtbare Kapellmeister gab das Anfangszeichen; eine feine, silbrige Musik erfüllte kosend den Raum.
„Scriabine!“ sagte Oevelund.
„Ja!“ bestätigte Kjelland. „Es ist die dritte Etüde von Scriabine.“
„Ich sehe,“ staunte Griggs, „wir sind ein Kongress von Musiksachverständigen.“
Ulsaker lachte: „Kjelland hat keine Ahnung von Musik; die dritte Etüde von Scriabine ist das einzige, was er kennt.“ Und indem er sich einen Ruck gab, um dem strafenden Blick Kjellands auszuweichen, setzte er hinzu: „Diese Etüde ist nämlich das Lieblingsstück der Baronin Laurgaard, die dort oben sitzt — und ich bin sicher, dass sie es ist, die es bestellt hat.“
„Baronin Laurgaard“, wiederholte Griggs, indem er den Blick auf Kjelland heftete. „Sie kennen sie also?“
Kjelland sah bös an Ulsaker vorbei. „Flüchtig“, sagte er schliesslich in gleichgültigem Ton.
„Wenn ich eigennützig wäre, würde ich Sie bitten, mich ihr vorzustellen. Sie ist in der Tat eine der schönsten Frauen, die ich bis heute gesehen habe.“
„Nichts wäre leichter als das, Herr Doktor“, sagte Kjelland, der unverwandt zur Loge hinaufsah. „Aber Sie werden wenig Freude daran haben. Die Baronin Laurgaard ist eine völlig empfindungslose Frau.“
Oevelund schürzte die Lippen, als ob er ein Lachen nur mit Mühe unterdrücke. „Ich glaube, es ist ein wenig kühn, von den intimsten Angelegenheiten einer Frau so ... wie soll ich sagen ... so diagnostisch zu reden. Ich habe gefunden, dass die temperamentvollste Frau auf den ersten Blick fast immer das Gegenteil schien. Denn es liegt auf der Hand: je kultivierter sie ist, desto mehr wird sie gelernt haben, ihre Gedanken und ihre Wünsche zu verbergen. Und nicht nur das: das wahre Temperament, ich möchte sagen: das echte Temperament einer solchen Frau will aufgesucht sein — es ist nicht da, es vibriert unter dem Aufklingen einer verwandten Saite. Um aber all diese geheimnisvollen Dinge, die wie halbe Töne zwischen Seelischem und Körperlichem schwingen — um alles dies erspüren zu können, bedarf es, glaube ich ...“
Eine kleine Pause entstand. Es war ungewiss, ob Oevelund das Wort suchte oder ob er aus irgendeinem bestimmten Grunde verstummte. Da sagte plötzlich Ulsaker mitten in die Gedankengänge der anderen hinein:
„Herr Kjelland war mit Astrid Laurgaard verlobt.“
Alle wandten sich zu Kjelland herum. Er war blass geworden, und während er unbeweglich in sein leeres Glas blickte, runzelten sich seine Brauen.
„Das ist freilich etwas anderes“, sagte Oevelund mit einer Stimme, in deren leisem Ton, vielleicht gegen seine Absicht, eine gewisse Schonung lag.
„Es ist nicht richtig, was Ulsaker Ihnen da erzählt. Ich war mit Astrid Laurgaard nicht verlobt. Aber ich kann nicht leugnen — dass ich den Wunsch hatte. Wir sind Jugendgespielen, Astrid und ich, und niemand auf der Welt steht ihr näher als ich — sie selbst hat es mir gesagt. Sie müssen deshalb zugeben, Herr Oevelund, dass ich ein gewisses Recht habe, hier, wie Sie sich ausdrücken: diagnostisch zu reden. Astrid hat mir erklärt, sie habe niemand auf der Welt lieber als mich. Dennoch sitzt sie mit einem Manne dort oben, mit dem sie verlobt ist ...“
„Eine Vernunftangelegenheit?“ fragte Griggs.
„Das ist ausgeschlossen. Dazu kenne ich die Baronin wirklich zu genau. Im übrigen ist sie reich; eine Veranlassung zu einer Konvenienzheirat liegt weiss Gott nicht vor.“
Griggs sah hinauf. Die beiden dort oben sahen sich in die Augen und lächelten — jenes zärtliche Lächeln, das seit Anbeginn der Welt die Begleitmusik junger Liebe ist.
Auch Kjelland sah nach oben. Nun traf sich sein Blick mit dem des Arztes.
„Vielleicht bedarf es dieses Umweges über den Kammerherrn Gandrup ...“
„Ich verstehe Sie nicht.“
„Vielleicht kehrt sie jetzt zu Ihnen zurück?“
Kjelland lachte nervös. „Ich sehe, Sie kennen die Frauen nicht. Und besonders: diese Frau nicht.“
„Ich kenne sie in der Tat nicht — aber ich glaube kaum, dass das viel zu bedeuten hat. Ja, ich glaube: je mehr wir uns über die Frauen den Kopf zerbrechen, um so mehr rücken sie von uns ab. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Frauen nicht ergründet, sondern genommen sein wollen.“
„Ich weiss nicht, wo Sie Ihre Erfahrungen gesammelt haben, mein lieber Herr Doktor Griggs — aber ich kann Ihnen sagen, dass Ihre Weisheit auf Astrid Laurgaard bestimmt nicht zutrifft.“
„Mag sein. Man soll nichts verschwören.“ Wieder blickte Griggs zur Loge hinauf — es mochte ein Zufall sein, dass im selben Augenblick Astrid Laurgaard den Kopf zu ihm herumwandte und ihn mit einem kurzen, betroffenen Blick ansah.
„Wie spät haben Sie’s?“ fragte Griggs.
Ein wenig erstaunt zog Kjelland die Uhr. „Dreiviertel Zwölf.“
„Was bekomme ich, wenn die Baronin Laurgaard — sagen wir: um eins ... nun, wohin soll sie kommen?“
„Ins Schreibzimmer des Hotels“, schlug Oevelund scherzend vor. „Dort ist um eins kein Mensch.“
„... also gut: ins Schreibzimmer des Hotels kommt?“
„Sprechen Sie im Ernst?“ fragte Kjelland und machte runde Augen.
„Aber ja.“
„Kennen Sie die Baronin?“
„Sie wissen selbst, dass ich sie nicht kenne.“
„Sie wollen also mit ihr sprechen?“
„Sie werden bis um eins mit mir zusammenbleiben und sich auf diese Weise überzeugen, dass ich nicht mit ihr sprechen werde.“
„Und Sie halten das, was Sie eben gesagt haben ...“
Mit einer leichten Ungeduld im Ton unterbrach ihn Griggs: „Sie können auch irgendeinen beliebigen anderen Ort und eine andere Zeit bestimmen.“
Kjelland sah ihn an: „Gut. Sagen wir um halb eins.“
„Er kann es vor Ungeduld nicht länger aushalten!“ lachte Ulsaker.
„Um halb eins: in der Lounge.“
„Gut. Sie werden also um halb eins die Baronin Laurgaard in der Lounge dieses Hotels erwarten.“
„Und wenn sie nicht kommt?“ warf Ulsaker dazwischen.
„Werden Sie dann Ihren ausgezeichneten Pommery ...“
„Nichts von Pommery“, schnitt ihm Kjelland das Wort ab. „Ich muss Sie bitten, Astrid Laurgaard nicht zum Gegenstand einer Wette zu machen.“ Er wandte sich an Griggs: „Wenn das ... wenn Ihre Prophezeiung misslingt, was ich, offen gestanden, erwarte, so betrachte ich die Angelegenheit als erledigt, und ich glaube, ich brauche keinen der Anwesenden besonders zu bitten, darüber zu schweigen.“
Griggs nickte. „Dennoch möchte ich Ihnen, wenn ich so sagen darf, einen Preis vorschlagen. Nichts Konkretes, nichts, weder Pommery noch Chablis. Wenn meine Prophezeiung eintreffen sollte — mit anderen Worten, wenn die Baronin um halb eins in die Lounge kommen sollte —, so erbitte ich von Ihnen eine Gegenleistung. Nämlich: es könnte sein, dass ich Ihnen in nächster Zeit — vielleicht noch in dieser Nacht — Dinge sagen werde, die auf den ersten Blick unglaubwürdig erscheinen. Wenn also meine Vorhersage eintreffen sollte, so bitte ich um Ihren Glauben auf Vorschuss.“
„Ich meine,“ sagte Oevelund, „gegen diesen Kreditantrag ist nichts einzuwenden.“
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