Das Beefsteak Tatar wurde gebracht und ich begann es zuzubereiten. Das ist eine Zeremonie, die anderswo mittlerweile Seltenheitscharakter hat. Es gibt nur wenige Orte, an denen Beefsteak Tatar so zelebriert wird wie im Jahreszeiten-Grill. Schon die vielen Zutaten sind köstlich anzusehen: Neben dem geschabten Rinderfilet gehackte Zwiebeln, Kapern, Petersilie, Eigelb, Cognac, feinstes Olivenöl sowie Salz und Pfeffer. All diese Ingredienzien mischte und rührte ich nun zu einem innigen Verbund. Katharinas und Ullis Augen glänzten. Nach dieser opulenten Vorspeise mit vielem und gutem Rotwein kam die gebratene Ente. Knusprig, braun und brutzelig. Die Stimmung war bestens.
Während des Verzehrs des gebratenen Federviehs wurde auffällig weniger vertraulich gesprochen. Ganz im Gegenteil, die Stimmen wurden immer lauter und ärgerlicher. Die Gäste an den umliegenden Tischen wurden schon aufmerksam. Inzwischen erkannte man auch den Schauspieler. Fragende Blicke – was ist los? Ein Oberkellner muss immer eine passende Antwort bereithaben. »Wie Sie bemerkt haben, sind es Schauspieler. Sie haben in Bälde eine Premiere von Wer hat Angst vor Virginia Wolf? , dafür proben sie sogar während des Essens. Kunstbesessene.« Ob man mir das geglaubt hat, weiß ich nicht. Ich habe es schließlich selber auch nicht geglaubt.
Die Auseinandersetzung wurde immer heftiger, bis Katharina aufgelöst und unter Tränen den Tisch verließ. Sie rief noch: »Jetzt gehe ich in die Elbe und ertränke mich.« Worauf Ulli in derselben Tonlage antwortete: »Geh lieber in die Alster, weil bis zur Elbe überlegst du es dir doch wieder anders.«
Ja, sie überlegte es sich wirklich anders, indem sie weder in Elbe noch Alster, sondern nach Hause ging und auf Ulli wartete. Er kam mit einer Flasche Rotwein in der einen Hand und einem Blumenstrauß, den ich ihm schnell aus unserer Gärtnerei besorgt hatte, in der anderen sowie den liebevollsten Blicken in den smaragdgrünen Augen. Das nennt man taktische Schadensabwendung.
Heute sind die beiden längst verheiratet und ein glückliches Paar. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute in der Toskana oder in Venedig, mit Hund. Worum es bei dem Disput damals ging, wissen beide nicht mehr.
Ente gut, alles gut!
Die Mehrzahl der Menschen ist so: Macht man ihnen bescheiden Platz, so werden sie unverschämt. Versetzt man ihnen aber Ellbogenstöße und tritt ihnen auf die Füße, so ziehen sie den Hut.
Johann Nepomuk Nestroy
Oberkellner Skrivánek und die Kunst des Vorausahnens
Die größeren Anforderungen als der weithin bekannte Gast, die Prominenz, stellt oftmals der unbekannte Gast. Selbstverständlich will auch er genauso zuvorkommend bedient werden, natürlich ist er es nicht minder wert, dass man sich nach Kräften um ihn kümmert und ihm die gebührende Aufmerksamkeit widmet, und so soll dies auch auf diesen Seiten geschehen.
Das wunderschöne Buch Ich habe den englischen König bedient des tschechischen Autors Bohumil Hrabal, mir bis dato unbekannt, habe ich von einer deutschen Verlegerin nach einem sehr anregenden Gespräch als Präsent erhalten, und die außergewöhnlichen, ja fantastischen psychologischen Erkenntnisse der Romanfigur Oberkellner Skřivánek haben mich so beeindruckt und beflügelt, dass ich ihn zum Vorbild erwählt und mir vorgenommen habe, ein wenig bei ihm zu stibitzen. Natürlich war es mir unmöglich, stets bereits im Voraus so detailliert über das Begehr des Gastes Bescheid zu wissen wie Oberkellner Skřivánek, der schon nach einem kurzen Blick auf den Gast weiß, was er bestellen wird. Und nicht etwa nur, dass es Kaffee sein wird; er ist sich auch sofort über die Art des Kaffees im Klaren – ob kleiner Brauner, Fiaker, Schale Gold oder Teeschale et cetera. Mit neunundneunzigprozentiger Treffsicherheit.
Ich habe mich in meinen Kellnerjahren weniger darauf spezialisiert, schon beim Eintreffen des Gastes vorauszuahnen, was er konsumieren wird, sondern habe das Hauptaugenmerk zunächst mehr auf seinen Charakter gelegt. Ist es ein angenehmer Gast, ein Problemfall oder wird es ein Gast sein, der sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, im besten Sinne, erwartet? Das herauszufinden war immer die erste Aufgabe. Welchen Verlauf wird unsere Begegnung nehmen? Diese Überlegungen anzustellen war für mich quasi eine sportliche Betätigung; ein Test, wie weit sich die Menschen tatsächlich im Voraus in Schubladen einordnen lassen. Außerdem halfen sie mir, im Umgang mit dem Gast den richtigen Ton einzuschlagen.
Mit dem Orakel, was der Gast wohl zu essen und zu trinken gedenke, konfrontierte ich mich demgegenüber erst bei Tisch. Auf eine ziemlich genaue Treffsicherheit bei diesem Kopfspiel war auch ich bedacht. Ob ein Gang oder zwei, war meist einfach zu eruieren. Ebenso ob Fisch oder Fleisch. Auch wer wohl den preiswerteren sogenannten Business Lunch wählen würde, ließ sich leicht erraten. Die meisten Menschen signalisieren schon aus der Entfernung ihre Befindlichkeit, ihre Tagesverfassung, ihren momentanen Gemütszustand. Eine Frisur, ob Mann oder Frau, erzählt eine lange Lebensgeschichte. Die Kleidung vertritt eine Lebensanschauung. Die kann aber auch gebrochen sein: Es ist mir oft untergekommen, dass etwa die Schuhe eines Herrn die Aussage des Anzugs ins genaue Gegenteil verkehrten. Dann wurde es kompliziert. Ansonsten hatte ich meist leichtes Spiel. Wenn es mir gelungen war, eine »Krawallschachtel« zur Räson zu bringen und positiv umzustimmen, ohne dass sie es bemerkte, dann habe ich mich still und heimlich mit einem innerlichen Schulterklopfen belohnt.
Am aufregendsten – und erfreulichsten – war es, wenn mich diejenigen, die auf meiner internen »Festplatte« als unangenehm registriert waren, mit dem Gegenteil überraschten. Auch die aufgesetzt zuckersüßen Töne waren meist nicht von langer Dauer. Der wahre Charakter kommt immer irgendwann zum Vorschein wie Unkraut, das durch Beton bricht.
Wenn zum Beispiel Luise Petersen den Grill betrat, mit teurem Nerzmantel, den Nerzhut weit in die Stirn gezogen (damit man die unordentliche Frisur nicht sieht), minutenlang beim Eingang verweilend, ehe sie zu einem Entschluss findet, wusste ich sogleich: »Heute gibt es Berg-und-Tal-Fahrt.« Damit war ich einverstanden, denn dafür war ich gerüstet. Sie war mein Sparringpartner im Ring, und mein Ziel war es, a priori zu verlieren. Denn: »Wenn der Kellner gewinnt, hat er den Gast verloren.« Wie ich schon eingangs erwähnte, sollte ein Oberkellner viele Berufe und Funktionen nebenbei haben. Heute waren Diplomatie und Ironie gefragt. Ich war mir sicher, nachdem sie mich und die ganze verdorbene Welt in Grund und Boden verdammt hatte, würde mir Frau Petersen ein spezielles Trinkgeld geben. Quasi als Entschuldigung und Entschädigung für ihr selbst erkanntes schlechtes Benehmen. Und doch ging es mir nicht um dieses Extra, mir war es nur darum zu tun, diese Frau für Augenblicke der Bitterkeit des Alltags zu entreißen. Um eine etwas bessere Stimmung zu inszenieren, brachte ich das Gespräch auf das Thema »Hund«. Sie besaß einen kleinen Vierbeiner, bei dem zwischen vorn und hinten keinerlei Unterschied zu erkennen war. Wohl ihr einziger »Gesprächspartner«, außer den Kellnern. Da verzogen sich die Sturmwolken und die Sonne brach durch.
Bei Siegrun Stratemann war es immer sehr einfach zu erkennen, was heute gewünscht wird. Sie war Trinkerin und sich dessen nicht wirklich bewusst. Sobald sie, unausweichlich, ihre ersten Giftpfeile abschoss, die gerne auf ihren Mann gezielt waren, spendierte ich ein Glas »aufs Haus«, dann war die Welt wieder für eine Weile akzeptabel. Nach dem Hauptgericht, das Frau Stratemann gemeinsam mit ihrem inzwischen eingetroffenen Gatten zu sich nahm, war Milde eingekehrt. Die Zeit arbeitete für mich. Geduld (und bisweilen ein guter Trunk) macht aus dem Bären ein Lamm.
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