1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Pass auf, ich erkläre es Dir: Werder hat in dieser Saison zweimal gegen Bayern gespielt. Das erste Spiel war hier in Bremen, letztes Jahr im November. Und weißt Du, wie das Spiel ausging?“
Hannes zog die Augenbrauen hoch, schaute Simon tief in die Augen und machte eine Pause.
„Nein!“, flüsterte der Junge.
„Werder hat 2:0 gewonnen, durch ein Tor in der ersten und ein Tor in der zweiten Halbzeit!“
Simon lächelte über das ganze Gesicht.
„Und was war mit dem zweiten Spiel?“, fragte er.
„Das zweite Spiel war in München, im April, vor etwa drei Wochen. Da hat Werder auch gewonnen, und zwar mit 1:0!“
„Wirklich?“, fragte Simon.
„Wirklich! So, und jetzt frage ich Dich: Wenn Werder zwei Spiele gegen Bayern München hatte und beide gewonnen hat, wer ist dann besser?“
„Werder!“, antwortete Simon euphorisch.
„Werder. Und wenn ein Bayern-Fan sagt, Bayern sei besser als Werder, hat der Bayern-Fan dann Ahnung von Fußball?“
Simon schüttelte den Kopf.
„Siehst Du, das ist der Beweis: Ein Bayern-Fan hat keine Ahnung!“
„Aber er weiß es nicht!“, ergänzte Simon.
Hannes nickte und zog es vor, es zunächst dabei bewenden zu lassen. Er hatte in nur wenigen Stunden den Grundstein für das Fanleben des Jungen gelegt: Simon mochte die Grün-Weißen und hatte auch schon eine gewisse Antipathie für den FC Hollywood entwickelt. Es gab schlechtere Tage als diesen. Wenn jetzt doch nur noch ein Heimsieg dazukommen würde.
Hannes hatte sich die ganze Zeit vor den Jungen gekniet, jetzt bemerkte er, wie seine Arschnarbe wieder SOS funkte.
„Weißt Du, was wir jetzt unbedingt noch machen müssen, Simon?“
Der Junge schaute zu Hannes nach oben und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen in den Fanshop gehen und Dir etwas Grün-Weißes kaufen!“
„Wirklich? Was ist ein Fanshop?“
„In einem Fanshop können die Fans, das sind die Menschen, die einer Mannschaft ganz fest die Daumen drücken, Dinge kaufen, die jedem zeigen, dass man seine Mannschaft toll findet!“
„Ah. So wie Dein T-Shirt, oder? Das ist grün. Hast Du das auch in einem Fanshop gekauft?“
„Genau, so wie mein T-Shirt!“
„Gut, dann müssen wir da jetzt hingehen. Meine Mama hat vielleicht nicht gewusst, dass man was Grünes tragen muss, wenn man zu Werder geht!“
„Das ist nicht schlimm. Wir besorgen Dir einfach etwas, Simon!“
„Gut. Ich habe Geld dabei in meinem Rucksack!“, antwortete der Junge stolz.
„Nein. Ich werde Dir etwas kaufen. Das ist ein Geschenk, schließlich bist Du heute das erste Mal im Stadion. Da bekommt man immer etwas geschenkt!“
Simon nickte.
„Meinst Du, so wie eine Schultüte, wenn man den ersten Schultag hat?“
Hannes musste lachen.
„Ja, genauso wie am ersten Schultag. Also, was ist, gehen wir weiter?“
„Gut!“, rief Simon glücklich und nahm wieder Hannes’ Hand.
Als sie den Fanshop am Stadion verließen, war Simon Eigentümer eines grün-weiß-gestreiften Werder-Schals und eines grünen T-Shirts mit der Aufschrift 100 % Werder. Der Platz um das Weser-Stadion füllte sich immer mehr mit Fans, wobei vor allem jene, die in Fanutensilien gehüllt waren, Simon zu faszinieren schienen. Immer wieder drehte er sich um, schaute singenden Fans nach oder reckte seinen Hals, weil er glaubte, etwas verpassen zu können. Eine seltsame Form des Stolzes überkam Hannes, denn er wusste, dass er es war, der dem Jungen womöglich einen unvergesslichen Tag bescheren würde.
„Wann gehen wir denn rein?“, wollte Simon schließlich wissen.
„Wann Du möchtest, das Spiel beginnt in 45 Minuten, wir haben also noch etwas Zeit!“
„Oh!“, sagte Simon nur und stutzte.
„Was ist denn?“ Hannes beugte sich wieder zu ihm nach unten.
Der Junge betrachtete ehrfürchtig seinen Schal und fragte:
„Aber warum ist es denn schon so laut im Stadion?“
„Viele Fans sind jetzt schon drin, weißt Du, vor allem die aus der Ostkurve!“
„Ostkurve?“
Er ließ nicht locker, wollte alles ganz genau wissen. Also erklärte ihm Hannes, dass es verschiedene Arten von Fans gab, dass vor allen Dingen die, die in der Ostkurve standen, den größten Anteil an der Stimmung im Stadion hatten. Er klärte den Jungen darüber auf, was eine Dauerkarte war, was Gästeblock bedeutete, warum manche Fans lieber standen als saßen, und immer, wenn er das Gefühl hatte, Simon überfordert zu haben, nickte dieser nur und stellte eine weitere Frage.
„Und wenn man eine Dauerkarte hat, darf man jedes Spiel anschauen?“
„Genau!“
„Hast Du auch eine Dauerkarte?“
„Ja, ich habe auch eine Dauerkarte!“
Hannes glaubte Stolz in Simons Blick zu erkennen!
„Was ist, wollen wir reingehen!“
Simon nickte.
„Aber vorher essen wir noch eine Bratwurst. Damit wir auch genug Kraft zum Anfeuern haben, was meinst Du?“
„Gut!“, flüstere der Junge so leise, dass es Hannes wegen des stärker werdenden Lärms nur von seinen Lippen ablesen konnte. Immer wieder betrachtete Simon sein T-Shirt. Es ging ihm richtig gut.
Der erste Blick auf ein fast volles Stadion musste etwas Unbeschreibliches sein, wenn man Simons Gesichtsausdruck richtig deutete. Anders als vorher, als er konzentriert und wissbegierig alles betrachtete und einzuordnen suchte, war der Junge jetzt wie hypnotisiert, möglicherweise auch leicht überfordert aufgrund der Eindrücke, mit denen das Stadioninnere seine Sinne überfrachtete. Deshalb gab Hannes ihm zunächst auch genügend Zeit, sich mit der Situation anzufreunden. Nachdem der Kleine etwa zwei Minuten mit offenem Mund die Szenerie auf sich hatte wirken lassen, drehte er sich schließlich zu Hannes um. Er hatte rote Backen und seine blauen Augen schienen auf die doppelte Größe gewachsen zu sein.
„Gefällt es Dir?“, fragte Hannes
„Ja!“, rief Simon und lächelte.
Bis zum Beginn des Spiels erkundigte er sich noch über den Stadionsprecher (er wollte wissen, wo er saß, woraufhin ihm Hannes erklärte, dass Werder mit Arnie und Stolli zwei Stadionsprecher an verschiedenen Plätzen hatte, die sich beide meist am Spielfeldrand aufhielten), die Anzeigetafel, die Werbebanden, den Sinn der Eckfahnen – wofür Hannes nur schwer eine plausible Erklärung fand – eine überdimensionale Flasche Mineralwasser, die am Spielfeldrand stand, die vielen Kameras, den Premiere-Reporter, der unterhalb der Südtribüne ein Interview mit Klaus Allofs führte, und natürlich über die Spieler. Er wollte wissen, warum die sich warm machen mussten, weshalb sie bereits vor dem eigentlichen Spiel ein kleines Spiel veranstalteten, wer der beste Spieler war, warum nicht alle schwarze Schuhe trugen, ob es dem Torwart weh tat, wenn er einen Ball auf den Körper geschossen bekam, was die Spieler machten, wenn sie während des Spiels Durst bekamen oder auf die Toilette mussten, ob die Spieler auch ihre Familien mit ins Stadion nahmen und ob auch die Spieler selbst eine Eintrittskarte für das Spiel brauchten. Hannes machte es Spaß, mit dem Jungen über Fußball zu sprechen. Er kam sich vor wie ein Erfinder, der einem begeisterten Publikum seine neueste Errungenschaft präsentierte.
Schließlich fielen Simon die Einlaufkinder auf!
„Sind das die Kinder der Spieler?“
Hannes grinste.
„Nein, das sind Kinder, die in kleinen Vereinen Fußball spielen. Die Vereine schreiben Werder einen Brief und fragen, ob ihre kleinen Fußballer vielleicht mal mit den Spielern einlaufen dürfen, weißt Du!“ Hannes musste schreien, denn jetzt tobte das ganze Stadion.
Simon nickte und dann stand er, wie alle anderen Fans um ihn herum, auf und applaudierte den Spielern, als hätte er selbst schon seit zwei Jahren eine Dauerkarte.
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