„Alles in Ordnung?“, fragte der Typ, der etwa in Hannes’ Alter war.
„Den Umständen entsprechend!“, antwortete Hannes knapp, „Musste am Hintern genäht werden, deshalb kann ich nur so sitzen!“
Der Taxifahrer lächelte.
„Ach so, dachte schon, es sei was Ernstes!“
Dann tat er Hannes den Gefallen und schwieg. Im Radio lief gerade eine Zusammenfassung der Zweitligaspiele des Vorabends. So schloss sich also der Kreis. Gute zehn Minuten später war er in seiner Wohnung. Er war müde und wollte nur noch schlafen. In diesem Moment interessierte ihn nicht, wie es wohl nach seiner Flucht aus dem Toilettenfenster des Restaurants weitergegangen war. Es war ihm egal, wie seine Kollegin aus der Sache herausgekommen war oder ob sie die Rechnung gezahlt hatte. Es machte ihm nichts aus, dass er sich die Hose aufgeschlitzt und mit Blut durchtränkt hatte. Das Einzige, was ihn in diesem Moment beschäftigte, war, dass er normalerweise auf dem Rücken zu schlafen pflegte. Doch dies würde er, zumindest bis man ihm die Fäden entfernt hatte, bis auf Weiteres vergessen können.
Anders als an Wochenenden normalerweise üblich, schlief Hannes nicht aus. Die Schmerzen weckten ihn, er hatte das Gefühl, sein Hintern würde pulsieren wie ein Fußballstadion kurz vor dem Elfmeterschießen. Soweit er es durch Augenschein erkennen konnte, war wenigstens der Verband noch an Ort und Stelle.
Es war ihm also tatsächlich gelungen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Doch eines war klar, er würde wahrscheinlich wieder einmal kündigen müssen. Kündigung war nach wie vor seine einzige Strategie der Problembewältigung. Doch um sich mit diesen Gedanken stimmungsmäßig auf den Nullpunkt zu philosophieren, blieb am Abend noch genügend Zeit. Heute spielte Werder gegen Hertha, und hatte er nicht gestern einen lebensnotwendigen Heimsieg davon abhängig gemacht, ob es ihm gelingen würde, das Toilettenfenster auszutricksen? Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, jetzt mussten die Profis nachlegen. Thomas Schaaf würde ihnen sicher die richtige Taktik mit auf den Weg geben. Er beschloss, seinen pulsierenden Hintern zu ignorieren. Stattdessen wollte er duschen (er würde sich eine Plastiktüte um die Lenden kleben), frühstücken, sich sein Trikot überstreifen, den Schal umlegen und sich auf den Weg machen. Anschließend würde er, wie immer, durch das Viertel streifen, den Osterdeich entlanggehen, sich drei Stunden vor Spielbeginn ins Ambiente setzten, heute vielleicht aus besonderem Anlass an die Bar stellen, zuerst einen Milchkaffee, dann ein Beck’s trinken und schließlich im Stadion das Spiel genießen. Er konnte auch Thomas und Frank anrufen, doch ihm war heute irgendwie nicht danach. Später im Stadion würde er genug Zeit haben, mit ihnen zu reden. Heute wollte er zunächst einmal ein paar Stunden allein sein.
Als er aus der Dusche kam, der Trick mit der Plastiktüte schrie nach einer Patentanmeldung, läutete es an seiner Tür. Sofort wusste er, dass sie es war. Wie um alles in der Welt konnte sie nur so beschränkt sein? Warum? Hannes setzte sich mit der heilen Backe seines Hinterns auf den Rand der Badewanne und wartete, dass sie wieder ging. Doch sie läutete wieder. Ein weiteres Mal beschloss er, zu warten. Aber sie war hartnäckig und läutete noch ein drittes Mal.
Sie hatte ihm schon ein Werder-Spiel geklaut, ein zweites Mal würde er es nicht zulassen. Was wollte sie noch von ihm? Wollte sie ihn hier belagern? Jetzt war es genug!
Er riss die Tür auf und – stand vor einer Frau, die er vorher noch nie gesehen hatte. Anna mit ihren grünen, traurigen Augen …
3. Mai 2003: Simons erstes Spiel
Hannes hatte wirklich nicht viel Erfahrung mit Kindern, aber Simon kam ihm sehr klein vor. Der Junge schaute wieder zu ihm nach oben und musterte ihn. Dabei entblößte er eine Zahnlücke in seinem Unterkiefer. Die beiden vorderen Schneidezähne hatten sich verabschiedet und warteten auf ihre Nachfolger.
„Gut Simon, dann lass uns erst noch einmal reingehen. Hast Du schon gefrühstückt?“
Simon ging an Hannes vorbei und nickte. Als er in der Wohnung war, fiel ihm sofort der Tischkicker auf, der in Hannes’ Flur stand. Die Drehstangen befanden sich in einer Höhe, die nur unwesentlich niedriger als Simons Kopf war.
„Cool, das ist ein Fußballautomat, oder?“
Hannes musste lachen.
„Ja, kann man sagen, ein Fußballautomat. Das ist ein cooles Wort. Man kann auch Kicker dazu sagen!“
„Kicker“, murmelte, der Junge, drehte kurz an einer der Stangen und ging daran vorbei.
„Wohin?“, fragte er und drehte sich zu Hannes um.
„Gerade aus, in die Küche!“
Simon blieb vor dem Küchentisch stehen.
„Darf ich mich setzen?“
„Natürlich, klar. Du bist aber höflich!“
Simon hob den rechten Nasenflügel.
„Mama sagt, man soll immer fragen und sich nicht einfach setzen!“
„Das stimmt, da hat Deine Mama ganz recht!“
Hannes wollte sich nicht setzten, das Pulsieren in seinem Hintern war allgegenwärtig.
Simon legte seinen Rucksack auf den Tisch und zog ein Buch daraus hervor.
„Soll ich Dir vielleicht etwas vorlesen?“
„Nein, ich kann doch schon selbst lesen!“, antwortete der Junge selbstbewusst.
„Du musst was schreiben. Kinder dürfen nicht mit Fremden weggehen, nur mit Freunden oder Familienangehörigen!“
„Genau. Auf keinen Fall mit Fremden mitgehen!“, antwortete Hannes und setzte sich jetzt doch zu dem Jungen an den Tisch. Ähnlich wie im Taxi am frühen Morgen und am Badewannenrand vor einer guten Stunde verlagerte er sein Gewicht auf die linke Seite seines Hinterns.
„Hier, das ist mein Piraten-Freundebuch. Da stehen alle meine Freunde drin. Ich kann nur mit Dir mitgehen, wenn Du mein Freund bist. Also musst Du Dich auch in das Freundebuch eintragen!“
Simon blätterte eine Seite auf und legte Hannes sogar einen Stift dazu.
Der Kleine beeindruckte ihn schon jetzt. Er wusste, was er wollte, und war noch dazu ein helles Köpfchen. Für einen Erstklässler – älter konnte er auf keinen Fall sein – war er sehr gewieft. Ob er tatsächlich schon lesen konnte?
„Hier, das ist Deine Seite!“, sagte Simon und schob Hannes das Buch und den Stift zu.
Der Junge hatte einen grünen Hintergrund gewählt. Kein schlechtes Omen. Hannes nahm den Stift und begann die Seite langsam auszufüllen:
Name: Hannes Grün
Bekannt als: Eugene der Zeitreisende
Adresse: gleich gegenüber von Simon
Telefon: 0421 48 33 94
E-Mail: grünweißerhannes@web.de
Geburtstag: 02. Juli 1968
Sternzeichen: Krebs
Wir kennen uns: weil wir Nachbarn sind
Meine Hobbys: Werder Bremen, Musik, Lesen
Lieblingsschulfach: Sport
Ich bin ein Fan von: Werder und Simon
Das sollte es öfter geben: Auswärtssiege
Der coolste Film: Cool Runnings
Mein Lieblingssänger/Lieblingsband: AC/DC
Der absolut beste Song: Bayern hat verloren
Das stärkste Game: Kicker
Was ich gut kann: aus dem Toilettenfenster klettern
Was ich nicht leiden kann: Zwiebeln
Wen ich am liebsten habe: meinen Teddy
Meine Lieblingstiere: Hunde
Mein allergrößter Wunsch: die Meisterschaft 2004
Es war unglaublich, was die alles wissen wollten. Hoffentlich kamen derartige Bücher nie in die falschen Hände. Er schob Simon das Freundebuch und den Stift zurück. Dieser musterte den Eintrag kurz, dann klappte er das Buch zusammen und steckte es in seinen Rucksack zurück.
„Das lese ich mir heute Abend in Ruhe durch!“
„Gut. Hast Du Lust, Dir ein Werder-Spiel anzuschauen?“, fragte Hannes, stand auf und befreite seinen Hintern von den Schmerzen.
Simon nickte.
„Klar, warum nicht. Ehrlich gesagt, habe ich noch nicht so viel Ahnung, ich kenne auch noch nicht alle Spieler. Aber ich weiß, dass Werder letzte Woche gewonnen hat, stimmt’s?“
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