Zunächst wollte sie allerdings erst einmal wissen, weshalb es ihn nach Bremen verschlagen hatte und welchen Dialekt er sprach. Anstatt ihr zu erzählen, dass er vor einer Frau wie ihr geflüchtet war, hatte er ihr erklärt, es hätte sich einfach so ergeben und dass es für ihn im Grunde genommen immer klar gewesen war, über kurz oder lang Bremen als seinen Wohnsitz zu wählen. Damit hatte er wahrheitsgemäß ebenso voll ins Schwarze getroffen wie Freiburgs Iashwili, der soeben das 3:0 erzielt hatte. Die Sache mit seinem Dialekt überhörte er zunächst professionell und sie stellte keine weiteren Fragen dazu. Stattdessen wartete sie darauf, dass er sie auch danach fragte, wieso sie nach Bremen gekommen war, also tat er ihr den Gefallen. Worauf sie einen nicht enden wollenden Redeschwall losließ. Wenn Hannes sich nicht verhört hatte, hatte sie ihm sogar von ihrer Wasserschildkröte erzählt und dass sie einmal Bierdosen gesammelt hatte. Er hoffte, dass das Küchenpersonal bald mit dem Essen fertig war, irgendwie musste man sie schließlich stoppen.
Er drehte seinen Kopf langsam, aber stetig in Richtung des nächsten Großbildschirms und fragte sich, welchen Teams er jeweils die Daumen drückte. Fußball war nur dann etwas wert, wenn man einer Mannschaft den Sieg gönnte. Die erste Partie war selbsterklärend, denn für einen Werder-Fan gab es nur einen Verein aus Hamburg und der kam vom Kiez. Außerdem hatte Ivan Klasni
mal für St. Pauli gespielt. Für den wurde es auch langsam Zeit, sich in Werders erste Elf zu spielen. Hannes hielt große Stücke auf ihn, auch wenn der junge Kroate im Moment dabei war, einen Kreuzbandriss auszukurieren und deshalb sein Können noch nicht so richtig unter Beweis stellen konnte. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass Ivans Knoten in der neuen Saison platzen könnte. In der zweiten Begegnung drückte er Union Berlin die Daumen, denn die Eisernen wurden von Mirko Votava trainiert, der immerhin etwa 350-mal die Knochen für Werder hingehalten hatte und im Trikot der Grün-Weißen die Meisterschaft, den DFB-Pokal und den Europapokal der Pokalsieger gewonnen hatte. Im dritten Spiel tendierte er gefühlsmäßig zum SCF, obwohl er vor zwei Jahren eine bittere Stunde im Dreisamstadion zu Freiburg miterleben musste: Es war unter der Woche gewesen, ein DFB-Pokalspiel im Oktober 2001. Typische Version der Kategorie „Spiel auf ein Tor“, Ailton und Pizarro hätten 28 Tore machen müssen, die Breisgau-Brasilianer spielten wie Breisgau-Andorraner, aber der Ball wollte einfach nicht über die Torlinie rollen. Und als sich Hannes zusammen mit den anderen 200 Werder-Fans schweren Herzens auf eine Verlängerung eingestellt hatte, traf ein Mensch namens Sellimi in der 90. Minute nach einem Konter (der einzigen Freiburger Chance im gesamten Spiel) zum 1:0-Endstand. Werder war draußen und es war kalt und dunkel. So gesehen gab es eigentlich Grund genug, um den Kölnern die Daumen zu drücken. Aber das einzig sympathische am 1. FC Köln war deren Maskottchen, ein Geißbock namens Hennes. Exakt der Name, den seine kleine Cousine früher für ihn auserkoren hatte, weil sie Hannes noch nicht über die Lippen gebracht hatte.
„Könntest Du Dir vorstellen, dass was zwischen uns läuft?“
Hannes hatte jedes Wort verstanden, und er wusste, dass er sich nicht verhört hatte. „T’schuldige, was hast Du gesagt?“
„Deine Masche hat etwas von Zorro, verstehst Du?“
„Wenn schon, dann Zeitreisender mit Armbrust“, lag Hannes auf der Zunge!
„Zorro?“ Und dann sah Hannes, dass der Regisseur Mirko Votava einblendete.
„Ey, schau mal, kennst Du den Typen dort? Ich wette nicht!“
Sie drehte sich um.
„Wen?“
„Den, im Fernsehen!“
„Den Trainer? Muss ich den kennen?“
„Nee, musst Du nicht, aber jeder, der den kennt, hat bei mir einen Stein im Brett, weißt Du!“
Er zog lässig und schnell den linken Mundwinkel zur Seite. Scheinbar hatte die Meldung gesessen, denn sie blieb stumm. Als er aus seinem Augenwinkel sah, dass das Essen gebracht wurde, hatte er ihre erste Attacke erfolgreich überstanden.
Als Hannes sah, wie sie aß, wusste er, dass er so schnell wie möglich das Weite suchen musste. Er hatte noch nie einen Menschen so essen sehen. Sie hatte sich geschätzte 15 Chickenwings bestellt, dazu Kartoffelecken und diverse Saucen. Was sie mit den Wings anstellte, erinnerte Hannes an die Piranha-Horrorfilme aus seiner Kindheit.
Hannes konnte nichts essen. Verzweifelt starrte er auf den Bildschirm und sah nur den verwaisten Gästeblock von Wacker Burghausen.
Er wünschte sich ein schnelles Ende und sehnte das Golden Goal der ersten Verabredung herbei. Doch dazu musste er handeln und konnte nicht länger den stummen Unbeteiligten spielen. Dafür hielt sie ihn wohl, was wiederum irgendwie ihr Essverhalten zu stimulieren schien. Außerdem entging ihm nicht, dass an den beiden Nachbartischen bereits getuschelt wurde.
„Es tut mir leid“, flüsterte Hannes und legte die Gabel auf seinen Teller, „aber ich muss mir doch noch mal kurz die Hände waschen gehen, bevor ich anfange zu essen!“
„Bleib nicht zu lange weg, Zorro!“, flüsterte sie.
Er schloss die Kabine hinter sich zu. Wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, hätte er den Schlüssel zweimal umgedreht. Viel Zeit blieb ihm nicht, das wusste er. Ob sie Drogen genommen hatte? Niemand, der clean war, war in der Lage, so zu essen. Morgen spielte Werder gegen Hertha. Die Vision beschlich ihn, dass er nicht nur das morgige Spiel verpassen würde, sondern auch sonst nie mehr ein Werder-Spiel würde sehen können. Stattdessen vielleicht Spiele von Hannover 96 oder sogar dieses Münchner Vereins, dessen Name Hannes nicht so gern in den Mund nahm.
Er fragte sich, wie lange er jetzt wohl schon in der Kabine war. Immer, wenn jemand die Türe öffnete, befürchtete er, dass sie vielleicht nach ihm suchte. Er musste weg, raus hier, abhauen. Aber von ihrem Tisch im Restaurant konnte sie die Toilettentüre sehr gut sehen. Sie wartete draußen auf ihn. Sie würde nicht aufgeben. Nein, wenn er sie loswerden wollte, dann musste er schlau sein. Er musste sie auskontern, mit einer Taktik, die in keinem Buch stand. Und dann sah er das offenstehende Fenster. Er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Es war nicht gerade groß, dennoch schien es geeignet, um dadurch ins Freie zu flüchten. Er musste dazu nur auf die Toilettenschüssel steigen. Dann war ein Klimmzug notwendig, um in den Fensterrahmen zu gelangen, als ehemaliger Turner für ihn eine eher einfache Übung. Anschließend galt es, auch wenn es eng werden würde, sich im Stile eines Aals in die Freiheit zu winden. Sein Orientierungssinn war nicht gerade stark ausgeprägt. Er hatte wirklich keine Ahnung, wo er landen würde und wie hoch es jenseits der Kabine nach unten ging. Doch was auch passierte, er würde sich irgendwie hinuntermogeln. Und es gab keine Alternative. Es musste nur schnell gehen.
Er stand auf dem Rand der Toilettenschüssel, als sei er dafür geboren, und sprang etwa dreißig Zentimeter in die Höhe, um nach dem schmalen, gekachelten und daher ziemlich rutschigen Fenstersims zu greifen. Doch er war sportlich genug, um den Rahmen des Fensters gleich beim ersten Versuch zu fassen zu bekommen. Besser hätte es nicht laufen könne, seine Finger griffen schon nach der Freiheit wie die der Schalke-Profis am 19. Mai des Jahres 2001 gegen 17:17 Uhr nach der Meisterschale. Dann zog er sich nach oben. Seine Beine hingen etwa einen halben Meter über der Toilettenschüssel, während er seinen Kopf durch das Fenster streckte. Er begann zu schwitzen, stützte sich auf seine Handflächen und versuchte, sich weiter durch das Fenster zu drücken. Schließlich kam er zu der bitteren Erkenntnis, dass es doch nicht ganz so gut lief. Was für Schalke einst Patrick Andersson war, war für Hannes die Größe des Fensters.
Читать дальше