„Um was geht es denn?“, fragte Hannes, der langsam zu frieren begann, ungeduldig.
Erst jetzt sah er, wie traurig ihre Augen wirklich waren.
„Könnten Sie bitte auf meinen Sohn Simon aufpassen?“
Hannes glaubte sich verhört zu haben.
„Aufpassen, auf Ihren Sohn? Wie meinen Sie das?“
Sie schluckte.
„Ich bin allein mit ihm. Heute Nacht ist mein Vater gestorben und ich muss mich um die Formalitäten kümmern. Am Nachmittag muss ich arbeiten, am Flughafen. Normalerweise hat er immer auf Simon aufgepasst, wissen Sie. Heute am Samstag ist keine Schule. Mein Vater ist ganz plötzlich gestorben und Simon hängt so an ihm. Ich konnte es ihm nicht sagen, dass sein Opa gestorben ist. Ich weiß einfach nicht, wohin mit ihm. Da dachte ich …!“
Ihr Kinn vibrierte, sie war kurz davor zu weinen. Meinte sie das ernst? Sie kannte ihn doch gar nicht. Oder war sie so verzweifelt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Simon? Er sollte auf ihren Sohn aufpassen. Wie hatte sie sich das vorgestellt. Heute spielte Werder gegen Hertha. Er wollte das Spiel sehen.
„Das tut mir wirklich sehr leid mit Ihrem Vater, aber ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, hatte ich heute schon was geplant, wissen Sie. Und Ihr Sohn, er kennt mich doch gar nicht. Ich habe keinerlei Erfahrung mit Kindern!“
Es war ein einziger Rechtfertigungsversuch. Eine Ausrede, weil er zu Werder wollte. Warum war sie gerade in diese Wohnung gezogen?
„Ehrlich gesagt, dachte ich mir schon, dass Sie so reagieren, wissen Sie. Wahrscheinlich würde jeder so reagieren. Sie denken bestimmt, ich bin verrückt oder hysterisch. Es ist nur, Simon findet Sie wirklich toll, wissen Sie, und da dachte ich mir, es ist einen Versuch wert. Vielleicht hätten Sie sich mit ihm ja einigermaßen verstanden.“ Sie atmete tief durch. „Na ja, dann muss ich sehen, was ich mache. Trotzdem vielen Dank, Hannes!“ Sie drehte sich um und ging. Er spürte, dass sie jetzt weinte, es gelang ihr jedoch, es vor ihm zu verbergen. Hannes wusste, dass er noch ein paar Sekunden stark sein musste, dann würde der Tag ihm und Werder gehören. Als er die Türe fast schon zugezogen hatte, rief er:
„Warum?“
Anna drehte sich um und kam ihm wieder einen Schritt entgegen. Er sah die Tränen in ihren Augen.
„Warum was?“
„Warum findet er mich toll, Ihr Sohn?“
„Er hat Sie schon ein paar Mal gesehen, als er von der Schule nach Hause kam. Er sagt, Sie sehen aus wie Eugene der Zeitreisende!“
Hannes musste lachen. Jetzt erkannten ihn sogar schon Kinder, wenn es deren Mütter nicht taten. Eugene der Zeitreisende war der erste Film, in dem James Duncan eine Hauptrolle spielte.
„Wissen Sie, ich habe wirklich keine Erfahrung mit Kindern und so!“ Er dachte darüber nach, wie gerne er am Nachmittag mit Werder allein sein wollte. Daraus würde jetzt nichts werden, er musste wohl noch jemanden mitnehmen.
„Hat Simon schon einmal ein Fußballspiel gesehen? Werder?“
Anna schüttelte unmerklich den Kopf.
„Nein. Nein, hat er nicht. Er nervt mich schon ein ganzes Jahr, weil er einmal zu Werder möchte!“
Hannes nickte.
„Gut, dann sagen Sie ihm, er wird heute das erste Mal ins Weser-Stadion gehen!“ Hannes schaute auf den Boden, auf dem sich mittlerweile ein kleiner See gebildet hatte.
„Wie lange habe ich noch Zeit?“
„Eigentlich müsste ich schon im Krankenhaus sein. Sie wollen meinen Vater wegbringen, wissen Sie!“
„Gut. Dann geben Sie mir bitte zehn Minuten. Dann bin ich so weit!“
Anna weinte.
„Danke. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Wir klingeln dann bei Ihnen!“
Hannes nickte. Er zog die Tür hinter sich zu und dachte an sein eigenes erstes Werder-Spiel.
Eine Viertelstunde später läutete sie wieder. Hannes öffnete die Tür und sah, wie sich Anna zu ihrem Sohn nach unten bückte und ihm irgendetwas sagte. Er konnte nur noch „sei schön brav“ verstehen. Dann stand sie auf und schaute Hannes ernst an.
„Sie wissen ja gar nicht, was Sie da für mich tun!“
Hannes nickte.
„Hallo! Du bist bestimmt Simon, richtig?“
Der Junge schaute zu ihm nach oben, hob die Augenbrauen und lächelte.
„Ja, das stimmt!“
Hannes streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich bin Hannes!“
Simon nickte und schaute seine Mutter an.
„Ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für alles. Ich habe ihm Geld in den Rucksack gesteckt und da ist auch ein Zettel mit meiner Handynummer. Also, wenn irgendetwas sein sollte, Sie können mich jederzeit anrufen!“
„Gut, das mache ich. Aber ich denke, es wird nicht so weit kommen! Wir kriegen das schon hin, stimmt’s Simon?“
Anna nahm ihren Sohn, hob ihn in die Höhe und drückte ihn an sich, so als befürchtete sie, ihn nie mehr wiederzusehen.
„Ich passe auf, Mama!“, flüsterte Simon.
„Ja, das weiß ich, Du bist ein großer Junge!“
Dann stellte sie ihn wieder auf den Boden, drehte sich um, versuchte vergeblich zu lächeln und ging.
22. März bis 3. Mai 2003: Unzuverlässige Statistik und unberechenbares Toilettenfenster
Es sei an dieser Stelle ein weiteres Mal erwähnt, dass Hannes sich wegen seiner Ähnlichkeit mit James Duncan in der Öffentlichkeit normalerweise gut tarnte. Doch manchmal konnte er sich nicht tarnen. Dann, wenn er gezwungen war, längere Zeit mit Unbekannten in einem Raum zu sein, dem Wartezimmer einer Arztpraxis beispielsweise. Oder wenn er an seinem Arbeitsplatz mit Kollegen zusammen war.
Genau das war Hannes in diesem Moment wieder einmal zum Verhängnis geworden.
Er hatte lange dagegen angekämpft, war ihr immer wieder ausgewichen. Er hatte den Unwissenden, Naiven, Zerstreuten gemimt, auf Zeit gespielt, andere Termine ins Spiel gebracht, sogar eine ansteckende Krankheit vorgegaukelt. Aber sie wollte partout nicht aufgeben, war ausdauernd, mit einer ausgeklügelten Taktik ausgestattet und schien nie den Glauben an ihr Vorhaben zu verlieren. Sie hieß Silke und kam Hannes vor wie ein Team aus den Niederungen der Tabelle, das durch bedingungslosen Willen und Einsatz am Ende Jahr für Jahr den Kopf aus der Schlinge zog und den Klassenerhalt schaffte. Was für den Vfl Bochum der Klassenerhalt war, bedeutete für sie ein Date mit James Duncan.
Als ihm seine Kollegin erzählte, sie sei aus Hannover nach Bremen gezogen, ignorierte er allerdings seine Prinzipien. Sein Werder-Wissen förderte sofort eine ungeheuer kostbare Information zutage, die ihn bei konsequenter Vorgehensweise damit segnen konnte, sich dem Klammergriff dieser Frau zu entziehen.
„Werder spielt am Wochenende gegen Hannover!“, hatte er eher beiläufig formuliert und dabei so getan, als würde er wichtige Daten in seinem Laptop abrufen. Ohne hinzusehen hatte er sofort gespürt, dass sie ihren Kopf zu ihm gedreht hatte.
„Das weiß ich und ich werde im Stadion sein. Ich bin ein ganz eingefleischter 96-Fan!“
Besser hätte es nicht laufen können.
Der Fußballgott hatte also die Karten gemischt und ihm ein todsicheres Blatt gegeben. Die Fakten besagten nichts anderes, als dass in den bisherigen Heimbegegnungen der zwölf gemeinsamen Bundesligajahre mit 96 für Werder drei Unentschieden und neun Siege zu Buche standen. Niederlagen? Fehlanzeige! Hannover war ein Aufsteiger, das Hinspiel hatte 4:4 geendet, wobei Werder nach 67 Minuten durch ein Tor von Joe-le-chef-Micoud zum 4:2 bereits wie der sichere Sieger ausgesehen hatte. Nur durch eigene Nachlässigkeit und einen Doppelschlag von Bobi
binnen drei Minuten hatte man sich kurz vor Schluss doch noch die Butter vom Brot nehmen lassen. Aber dieses Remis war wohl Ansporn genug, um die Sache jetzt wieder geradezurücken. Das und die Heimbilanz von neun Siegen, drei Unentschieden und null Niederlagen.
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