In der 36. Minute erzielte ein Spieler mit dem Namen Horvath das 1:0 für den FC Superfund Pasching. Er umdribbelte die halbe Mannschaft der Grün-Weißen wie Slalomstangen. Horvath war wohl kein Abfahrtsläufer, sondern eher in den technischen Skidisziplinen zuhause. Wahrscheinlich hatte er auf die gleiche Art und Weise auch schon den einen oder anderen Weltcupslalom gewonnen, im Winter, wenn der Fußball zu wenig abwarf, um davon zu leben oder gar eine Familie zu ernähren. Vom Strafraum hatte er dann abgezogen und die Kugel fand den Weg ins Werder-Gehäuse, ohne dass es Borel möglich gewesen wäre, dies erfolgreich zu verhindern. Man musste kein Hellseher sein, um sich vorzustellen, dass sich der Junge morgen in das goldene Buch der Stadt Pasching eintragen durfte, vorausgesetzt Pasching war eine Stadt und man verfügte dort über ein goldenes Buch. Der Reporter jedenfalls setzte zum Sarkasmus an, und es war nicht von der Hand zu weisen, dass dieser wohl in Bayern-Bettwäsche schlief. Hannes drehte ihm sofort den Ton ab. Doch er war noch immer guter Dinge. Wenn nicht in den verbleibenden acht Minuten, dann würde man spätestens in der zweiten Halbzeit eine andere Werder-Mannschaft zu Gesicht bekommen. Da würde das Team die Skifahrer in ihre fußballerischen Schranken verweisen.
Kurz darauf sah Hannes, dass Glieder in einen Zweikampf mit Ismaël, Werders Neuzugang aus Frankreich, verwickelt wurde. Der Entfesselungskünstler löste sich, wie sollte es auch anderes sein, aus der Umklammerung, fiel, und der Schiri zeigte auf den Punkt. Zum Glück konnte Hannes den Reporter nicht frohlocken hören, das Szenario hatte Stummfilmcharakter und wirkte surreal, als sei es eine Inszenierung einer lokalen Theatergruppe mit dem Titel: Als der Fußball seine Sprache verlor – Bilder sagen mehr als Worte! Doch alles war real: Es gab tatsächlich einen Elfmeter für die Statisten, und Edi Glieder hatte ihn herausgeholt. Den Elfmeter wohlgemerkt. Aber dann überspannte der Glieder Edi wohl sichtlich den Bogen, denn er selbst legte sich den Ball zur Ausführung auf den Punkt. Hatte es sich denn noch nicht bis nach Österreich herumgesprochen, dass eine der goldenen Regeln der ungeschriebenen Fußballgesetzte lautete, dass der gefoulte Spieler nie selbst zur Ausführung eines Strafstoßes antreten sollte? Hannes begann zu beten. Wenn Glieder es jetzt nicht brachte und versagte, würde das Spiel die entscheidende Wendung nehmen. Doch Glieder versenkte das Ding – eiskalt. Es hieß 2:0. Jetzt wurde es langsam ernst, das Spiel in einer derartigen Konstellation noch zum Kippen zu bringen, würde verdammt schwer werden. Das Gute daran war, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte. Gleich war Halbzeit und dann musste man das Ruder eben mit der Brechstange herumreißen.
Doch es kam schlimmer.
Weitere drei Minuten später schlug ein Verteidiger namens Rothbauer einen diagonalen Pass über geschätzte 500 Meter auf den Schützen des 1:0. Hätte nicht der Hochsommer noch immer ganz Europa im Griff gehabt, wäre der Ball sicher schneebedeckt aus dem Himmel gefallen. Wieder überlief Horvath die Werder-Abwehr und legte mit viel Übersicht präzise quer auf Glieder. Es war einer der Bälle, die selbst der echte James Duncan auf einer seiner Zeitreisen im Tor untergebracht hätte, und natürlich ließ sich Eduard G. nicht zweimal bitten. Er schob das Objekt der Begierde lässig über die Linie. Hannes in seiner Wohnung, außerstande, auch nur ein Wort zu sprechen, geschockt, auf einem emotionalen Fußballnullpunkt verharrend, demoralisiert, betrachtete er die beiden Zahlen, die den Halbzeitstand widerspiegelten: 3:0. Das einzig Positive war in diesem Moment, dass er den Reporter nach wie vor nicht hören konnte. Wie um alles in der Welt konnte man sich nur so vorführen, so düpieren lassen? Wollte Werder es spannend machen? Gut, jeder wusste, dass Werder schon die verrücktesten Spiele gebogen hatte, wahre Wunder vollbracht hatte, wenn es sich um internationale Spiele gehandelt hatte. Einmal, im ersten Champions-League-Jahr, hatte man gegen Anderlecht sogar einmal einen 0:3-Pausenstand noch in einen 5:3-Sieg umgewandelt. Aber das waren alles Flutlichtspiele im heimischen Weser-Stadion gewesen, irgendwann im Frühjahr, wo die Spieler voll im Saft gestanden hatten. Nein, das Ding war gelaufen. Vielleicht konnte man noch das eine oder andere Tor machen, das Ergebnis so gestalten, dass die Europacup-Arithmetik die Chance auf ein Weiterkommen beim Rückspiel etwas erhöhte. Doch auch in der zweiten Halbzeit herrschte das gleiche Bild: Glieder, immer wieder Glieder.
Der Hans Krankl des FC Superfund wurde an jenem schwülen Abend geboren und wirbelte munter weiter. Hannes war so perplex, dass er vergaß, sein Bier zu öffnen. Was war das hier? Hatten die Österreicher zur Vorbereitung auf dieses Spiel in dreitausend Meter Höhe mit Medizinbällen einen Fußballtennismarathon gespielt? Sie schienen im Gegensatz zu Werder nicht müde zu werden. In der 68. Minute hätte es fast 4:0 geheißen, doch dieses Mal verhinderte Borel mit einer guten Parade die Katastrophe. In diesem Moment befasste sich Hannes mit der nahen Zukunft. Er würde morgen nicht einfach weitermachen können wie bisher. Das Scheitern im letzten Bundesligaspiel gegen Gladbach vor gut zwei Monaten war eine Sache, das konnte man, mit Mühe zwar, noch einigermaßen wegstecken. Aber diese Schmach der Edi-Glieder-Festspiele zu Pasching war eindeutig zu viel. Sie würde an Werder haften, nicht nur morgen, über die ganze Saison hinweg. Noch in 20 Jahren würde das Wort Pasching an Werder haften wie das Etikett Made in Taiwan an einem billigen Trikotimitat. Nur dass diese Werder-Elf keine B-Truppe war. Man würde, wenn die Saison in die Hosen gegangen war, immer wieder auf dieses Spiel zu sprechen kommen, vom Anfang vom Ende sprechen. Die Reportage, die Hannes nicht hören konnte, würde für ewig Zeugnis ablegen von der schlimmsten Vorführung, seit der erste Fußball bremischen Boden berührt hatte. Die Latteks, Hoeneß, Breitners und Weißbier-Waldis der Nation würden ein Fest feiern. Der Mann, der die Bildzeitungsschlagzeilen erfand, war gerade dabei, die Demütigung in kurze prägnante Worte zu fassen, die sich in die Seele eines jeden Fans brennen würden. Eine Schlagzeile wie
Superfund macht Werder rund
würde morgen die Gazetten füllen.
Nur das Double am Ende der Saison würde die Scharte ausmerzen können, aber daran glaubte wahrscheinlich nicht einmal Edi Glieders Oma. Hannes rechnete stattdessen schon einmal zusammen, wie viele Punkte man brauchte, um definitiv am Ende der Saison dem Abstieg zu entrinnen.
Einzig ein Spielabbruch konnte jetzt die Katastrophe noch abwenden. Hannes versuchte im Hintergrund des Spielfeldes Berge zu erkennen, Berge auf denen Schnee lag, potenzielle Lawinen entstehen konnten, die möglicherweise auf das Spielfeld rutschen konnten.
Er war noch klar genug, um sich der Tragweite seiner Gedanken bewusst zu werden. Das Spiel war verloren. Und er musste eine Entscheidung treffen, wie es morgen weitergehen sollte.
Es war schließlich Micoud, der Hannes noch einmal aus seiner von Selbstmitleid gespeisten Lethargie erwachen ließ, denn er hatte sich im Strafraum der Glieders durchgesetzt und wurde gefoult. Der Schiri zeigte sofort auf den Punkt. Hannes rechnete – es blieb noch genug Zeit. Die Österreicher hatten in der ersten Halbzeit binnen neun Minuten drei Tore gemacht. Jetzt blieben noch 18 Minuten, die doppelte Zeit also. Schaffte Werder womöglich noch die Sensation? Hannes kniete sich vor den Fernseher und betete, als Charisteas den Ball auf den Elfmeterpunkt legte.
„Bitte! Harry, bitte!“, flüsterte Hannes. Doch auch Schicklgruber nutzte die Chance, um Heldenstatus zu erwerben in jenem denkwürdigsten österreichischen Fußballfest seit Cordoba 78. Er hielt den Elfmeter des Griechen.
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