Letztlich aber sind das alles akzeptable Begleiterscheinungen – die Kicker sind wieder frei von negativen Gedanken. Das Bronze-Spiel steht an. Gegen Italien. Eine von diesen »Schweinemannschaften«, wie Mill sagt. Taktisch immer auf der Höhe. Konditionsstark. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Wenn man gegen die einmal zurückliegt, kann man auch genauso gut versuchen, Fort Knox mit einem Schraubenzieher einzunehmen. Die Chancen, den Abwehrbeton aufzuweichen, tendieren gegen null.
»Ihr müsst sie gleich früh attackieren«, brüllt Coach Löhr in der Vorbereitung aufs Spiel in der Kabine. »Pressing« würde man heute dazu sagen. Balleroberung weit in der gegnerischen Hälfte soll ein frühes Führungstor einbringen. Ein sehr gutes Rezept, wie sich herausstellt.
Bereits nach wenigen Minuten erobert Wuttke vor dem eigenen Sechzehnmeterraum den Ball, spielt einen langen Flachpass auf Mill, der auf der rechten Seite seinem Gegenspieler Massimo Brambati davonläuft. Frank zieht, den Hintern rausgestreckt, in die Mitte, legt den Ball auf für Klinsmann, und dieser erzielt flach und trocken das 1:0. Es dauert nicht lange, da fällt das zweite Tor. Ecke Wuttke, Kopfballverlängerung Schulz, am zweiten Pfosten köpft Gerhard Kleppinger die Kugel über die Linie. 2:0. Gegen Italien. Eine Weihnachtsbescherung könnte nicht schöner sein.
Frank wühlt sich im Glücksrausch der Hormone durch die Schwüle von Seoul. In unzähligen Zweikämpfen arbeitet er an der Bewältigung seines ganz persönlichen Fußballtraumas. Mill spielt gegen kleine, schnelle und spaßbefreite Abwehr- und Mittelfeldmänner wie Brambati, Mauro Tassotti, Stefano Carobbi oder Luigi De Agostini, gegen Defensivkünstler, die ihm normalerweise unablässig auf die Nerven gehen. Wie eine Klette kleben solche Ekelverteidiger an seinem Trikot, sie zerren und ziehen, tauchen im Augenwinkel sofort wieder auf, sobald man denkt, sie abgeschüttelt zu haben.
In der Bundesliga kapituliert Frank beim Anblick solcher Verteidiger manchmal schon vor dem Anpfiff. Bei Waldhof Mannheim beispielsweise ackert und grätscht ein ähnlich hartnäckiger Kollege namens Dimitrios Tsionanis, von dem Kultcoach Max Merkel mal sagte: »Der köpft auch eine Kiste Cola aus dem Strafraum!« Wenn der BVB gegen Mannheim ranmuss, weist Frank das Trainerteam an: »Lasst mich raus, gegen den komme ich nicht klar.« Lieber spielt er gegen hochgewachsene Verteidiger, gegen die Brüder Karl-Heinz und Bernd Förster oder gegen Guido Buchwald, denen er schon mal gemeinsam mit dem Ball durch die Beine laufen kann.
In Seoul aber klappt alles an diesem Tag gegen Italien, auch gegen die geballt aufgebotenen Beißer. Und Frank teilt den Italienern seine Genugtuung auch gern in Spielpausen mit. In einer Szene sieht man ihn im körperlichen und verbalen Infight mit gleich vier Blauen. Der Schiedsrichter muss sich ins Getümmel werfen. Im Weggehen haucht Frank dem entnervten Quartett noch ein paar Wörter zu, die besser auf keine Vokabelliste für Grundschulkinder gelangen sollten.
Halbzeit zwei. Deutschland macht den Deckel drauf. 21 Minuten vor dem Ende – Torwart Uwe Kamps hatte vorher zweimal mächtig Dusel – schließen Häßler, Klinsmann, Kleppinger und Torschütze Christian Schreier eine tolle Kombination zum 3:0 ab. Danach bricht unglaublicher Jubel aus, auf dem Feld und zu Hause. Bronze für Deutschland. Ein sensationeller Erfolg für den deutschen Fußball. Erspielt in einem Land, in dem die Kicker ihre noch bei der Abreise mitstartenden Bedenken schnell über Bord geworfen und sich richtig heimisch gefühlt haben.
Nach dem Spiel fällt der Druck ab – und die Dollarscheine sitzen locker. Erst geht es zum Plündern eines Büffets in ein Hotel, danach weiter in die Stadt, unterteilt in mehrere Gruppen. Der Alkohol fließt, die Orientierung schwindet. Frank und Wuddi landen im Taxi und in der Folge in eher düsteren Ecken der Stadt. Versehentlich schauen sie auch in einem Bordell vorbei, machen allerdings schnell wieder kehrt, als sie merken, wo sie gelandet sind. Am Ende wuchtet Frankie seinen volltrunkenen Zimmerkollegen ins Bett. Es ist seine letzte, spätnächtliche Amtshandlung als persönlicher »Chef« von Wuddi und als Boss dieser Mannschaft.
Nach der Rückkehr bekommt Frank, wie alle anderen auch, das Silberne Lorbeerblatt von Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Er trägt sich ins Goldene Buch der Stadt Frankfurt ein. Und registriert in dieser würdevollen Feierstunde zum ersten Mal, dass er Außergewöhnliches erreicht hat. Noch nie hat Frank einen Titel gewonnen. Aber er hat eine Mannschaft zu einem großen internationalen Triumph geführt. Als Anführer. Als Kapitän.
Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte Frank Mill zu einem Führungsspieler reifen, zu einem Mann, den selbst künftige Weltstars als ihren Leader ansehen und akzeptieren?
Es ist Zeit, auf die Anfänge dieses besonderen Fußballers zu schauen.
Also zurück in seine Heimat.
Auf nach Essen.
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