Löhr ist in Südkorea Franks Äquivalent auf der Trainerbank: ruhig, herzlich, analytisch, auch er ein Anhänger reduzierter und dosierter Rhetorik. Der Coach hatte als Spieler mit dem 1. FC Köln große Zeiten, wurde Meister und Pokalsieger. Eine lebende Legende der Geißböcke. Nun transportiert er seinen rheinischen Mix aus Leidenschaft und Lebenslust nach Asien. Auf dem Rasen gibt es knallharte Ansagen. Haben die Jungs Freizeit, wirft er die lange Leine aus. Dann darf die Truppe abends ohne Kontrollanrufe vom Übungsleiterteam ein oder zwei Bierchen trinken, gerne auch mal etwas länger.
Wer die Anweisungen des Kölschen Coaches verstehen will, braucht keinen IQ im Nobelpreisträgerbereich. Taktikbesprechungen in der Olympia-Qualifikation hatten so ausgesehen, dass Löhr seine Jungs nach den Spielen immer in einen separaten Raum führte, um dort mit Kreidestrichen an einer Tafel bestimmte Situationen nachzuzeichnen oder simple Passstafetten für die nächste Begegnung zu entwerfen. Klare Botschaften. So macht er es auch in Südkorea.
Das erste Spiel, zwei Tage nach der Anreise. Deutschland gegen China, 17. September 1988, im Glutofen von Busan, 27 Grad, 59 Prozent Luftfeuchtigkeit. Franz Beckenbauer, der Teamchef der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, ist extra angereist. Als er vor dem Spiel zur Kabine eilt, scharen sich die einheimischen Fans um ihn. Die südkoreanischen Ordner werfen sich beim Kopfnicken vor ihm fast auf den Boden. Deutschlands Fußballikone wird empfangen wie ein Kaiser, vielleicht haben die Gastgeber den Spitznamen zu wörtlich genommen. Gut für die Fußballer, deren Aufmerksamkeit sich nun ganz auf den Gegner richten kann.
Kurz nachdem Fernsehkommentator Günter-Peter Ploog angekündigt hat, dass diese deutsche Mannschaft mit einer Offensivkraft antritt, die noch nie eine deutsche Olympiamannschaft ausgezeichnet hat, knickt die chinesische Abwehr auch schon ein wie ein Pflänzchen im Wind der Wüste Gobi. Michael Schulz, der völlig überraschend spielt und die Sonnencreme im Koffer lassen konnte, schickt auf der linken Seite Armin Görtz, der auf Klinsmann flankt, der mit dem Kopf auf Wuttke zurücklegt, dessen Schuss abgeblockt wird und vor den Füßen von Mill landet. Frank zielt aus der Drehung mit links genau auf den Torwart. Vergeben. 18. Minute.
In der 32. Minute aber klappt es. Roland Grahammer spielt einen Zuckerpass in den Lauf von Wuttke, der lässt einen Gegenspieler stehen und setzt den Ball mit dem Außenrist in die linke untere Ecke. 1:0. Deutschlands Olympiafußballer sind angekommen in Busan. Der gute Start verbreitert die Brust, die Köpfe sind oben, der Motor surrt im Turniermodus. Es läuft.
Der Rest ist Formsache. In der 61. Minute legt Häßler einen Pass in den Lauf von Frank Mill, der direkt abzieht und von der Strafraumgrenze in den rechten Torwinkel trifft. Dieses Tor wird später zum »Tor des Monats« gewählt, es ist eine von insgesamt zwei Auszeichnungen dieser Art für Frank. »Es war das schönere Tor der beiden auserwählten«, sagt er. Schon allein deshalb, weil er sich außerhalb des Strafraums nur äußerst selten als Gefahr für gegnerische Torleute entpuppte. In der 89. Minute legt Frank nach Querpass von Klinsmann frei vorm Tor noch das 3:0 nach. Auftakt gelungen.
Zwei Tage später gewinnt Deutschland auch gegen Tunesien, 4:1. Frank ist wieder unter den Torschützen, in der 55. Minute zum zwischenzeitlichen 3:1. Dass die Deutschen zum Abschluss der Vorrunde 1:2 gegen die Schweden verlieren, macht nicht mehr viel aus. Zwischenrunde, Weiterfahrt und Umzug mit dem Bus ins knapp 200 Kilometer entfernte Gwangju. Zum Viertelfinale. Nun geht das Unternehmen Medaillenjagd erst so richtig los.
Die Mannschaft hat sich gefunden, und das liegt vor allem daran, dass die unterschiedlichen Charaktere ihre stattlichen Egos für die Zeit von Korea in den Dienst des gemeinsamen Ziels stellen. Dabei gäbe es Konfliktpotenzial genug. Goalgetter Klinsmann, der im Nahkampf mit den Abwehrspielern manchmal umherpflügt wie ein ungebändigtes Fohlen auf der Koppel, ist beispielsweise kein leichter Charakter. Der »blonde Engel« weiß genau, was er will: Karriere machen, das Beste aus seinen eher bescheidenen technischen Fähigkeiten herausholen. Die Olympischen Spiele bieten ihm eine ideale Bühne, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.
Klinsmann sticht heraus, schon allein durch seinen Habitus. Er trägt das sich selbst aufgeklebte Etikett »alternativ«, isst morgens sein Müsli, erzählt mit Vorliebe von seinem VW Käfer, den er trotz seines längst ansprechenden Profigehalts weiter fährt. Er liest viel, gibt sich als Kosmopolit, versucht, sich auch bildungstechnisch zu positionieren, offenbart die ersten Ecken und Kanten, die ihn zwei Jahre später bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien in eine Menge von Meinungsverschiedenheiten mit Lothar Matthäus hineintragen – die beiden Platzhirsche des deutschen Fußballs werden sich in ihren parallel verlaufenden Weltkarrieren immer wieder beharken. Klinsmann legt in Südkorea den Grundstein für das Image, das sich bei den meisten Fans bald verfestigen wird: Da rauscht ein cleverer Kicker von der Schwäbischen Alb heran, knallhart in Vertragsverhandlungen, informiert übers Zeitgeschehen, mündig, konfrontativ.
Eine Art Gegenpart zum schlauen Süddeutschen spielt auch in der Olympia-Auswahl: Wolfram Wuttke, der »Wuddi«, das vielleicht größte Enfant terrible, das je für Deutschland auflief. Wuddi ist vom lieben Gott mit Talent im Überfluss gesegnet worden, wandelt allerdings auch stets am Rande des Wahnsinns und hechtet oftmals mit beherztem Sprung über diese Grenze hinaus. 1988 hat Wuddi bereits ein paar Jahre den deutschen Profifußball belebt – und Geschichten über ihn gibt es so viele wie in Südkorea Fischrestaurants. Gerne erzählt man sich, wie er sich einst als Spieler im Dress von Schalke 04 den VW Scirocco von Kultbetreuer Charly Neumann schnappte und laut johlend mit der Kiste um den Trainingsplatz heizte, während die Kollegen Medizinbälle in die Luft stemmten. Seinem Jugendnationaltrainer Dietrich Weise goss Wuddi einst einen Eimer mit Dreckwasser übers Bett.
Der asketische Klinsmann ist für diese Olympia-Auswahl ebenso kategorisch nötig wie der Laissez-faire-Wuddi. Und beide hören zu, sobald Kapitän Mill etwas sagt. Viel wichtiger aber noch: Spieler wie Klinsi, Schulz, Gerhard Kleppinger und Sievers geben in Südkorea in jedem Training Gas, um sich Hannes Löhr aufzudrängen und möglichst in jedem Spiel das mannschaftliche Optimum abrufen zu können. Andere lassen auch mal locker, rauchen ihr Zigarettchen, holen sich die Pausen, die Fußballspiele in jener Zeit gestatten, weil sich eben noch nicht alles um Laufleistungen, Laktatwerte und perfekt austarierte Muskelpartien dreht. Wuddi und Frank etwa lassen sich ihre Fluppen und Bierchen nicht madig machen. Gelegentlich ist Wuttke auch drei Stunden nicht auffindbar, keiner weiß, wo er sich gerade aufhält. Solange er aber wie in der Vorrunde fast jeden Angriff ankurbelt und mit seinen blitzschnellen Antritten blankes Chaos und Entsetzen bei den Gegnern auslöst, lässt Löhr ihn gern gewähren.
Manchmal sind es regelrechte Kindereien, mit denen Wuttke, Mill und so manch anderer die Stimmung in der Mannschaft im oberen Bereich halten. Fast jeden Abend treffen sich einige Spieler zum Zocken – und oft ist das Zimmer von Wuddi und Frankie der Veranstaltungsraum. Auch Fritz Walter, der Torjäger vom VfB Stuttgart, liebt diese Pokerrunden. Bevor es losgeht, pflegt er ein Ritual: schlabbrige Jogginghose anziehen, es sich im Sessel bequem machen, Pokerface aufsetzen.
Dass Wuttke und Mill sich eines Abends die brennendste Massagesalbe aus dem Physioraum unter den Nagel gerissen haben, hat der Walter Fritz nicht mitbekommen. Das Zeug klebt nun, hineingestrichen vom Spaßmacherduo, in der Schlabberhose, in die Walter voller Vorfreude auf gute Karten steigt. Als er merkt, dass es im Schritt Feuer fängt, ist es schon zu spät. Fritz Walter hechtet aus der Hose, springt unter die Dusche und bringt den Schmerz mit warmem Wasser erst so richtig auf Touren. Seine wilden Beschimpfungen jucken Wuddi und Frank nicht wirklich. Am nächsten Morgen sorgt die kleine Kartenspielkatastrophe für beste Unterhaltung auf dem Trainingsplatz. Es kann weitergehen auf dem gemeinsamen Weg.
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