1 ...6 7 8 10 11 12 ...45 „Ach, ist ja interessant“, sagte der Dokumentarfilmer. „Da müssen Sie mir mehr erzählen. Da wollte ich nämlich auch schon immer mal hin, zu diesen Filmfestspielen. Da laufen ja auch Dokumentarfilme. Natürlich nur Systemverträgliches. Und das gemeine Volk bekommt diese Filme ohnehin nicht zu Gesicht.“
Die Bedienung kam an ihre Tische und stellte sieben Whiskygläser ab, womit Jeremys Budgetpläne endgültig ruiniert waren. Mie lächelte leise und bestellte mit halblauter Stimme noch eine Tasse Grüntee. Mit einer leichten Handbewegung verrückte sie ihr Whiskyglas um einige Zentimeter in Jeremys Richtung. Sie brauchte nichts zu sagen. Er verstand sie, als kenne er sie schon seit Ewigkeiten.
„Was meinen denn Sie als Südkoreanerin zu meinem Plan, uns in Nordkorea nach Hilfe bei der Verfilmung von Yellow Submarine umzusehen?“, wandte sich J. D. plötzlich an Mie.
Mie, die sich wie die Vietnamesinnen eher darauf beschränkte, die Herren reden zu lassen, zog kurz die fein geschwungenen Brauen zusammen, als überlege sie. Dann legte sich wieder ihr Lächeln um ihre Lippen. „Im September? Beim Filmfestival? Soll denn der Film so lange warten?“ Sie warf Jeremy einen strahlenden Blick zu.
Jeremy, so gern er sich darin sonnte, verwirrte dieser Blick mehr als alles andere. „Nein, nein, das muss ... jetzt muss er das wohl nicht mehr.“ J. D. vergaß kurz seinen Rausch und musterte Jeremy verwundert, der weiter nach Worten suchte. „Ich glaube, wir können das jetzt so schnell wie möglich angehen und ...“
„Man kann doch mit diesem steinzeitstalinistischen Terrorregime unmöglich gemeinsame Sache machen!“, meinte da der deutsche Reisejournalist zum skandinavischen Dokumentarfilmer und verfiel in seiner Erregung in seine Muttersprache.
„Ich finde ...“, begann der andere, der offenbar Deutsch recht gut verstand, auch wenn er jetzt verzweifelt nach den entsprechenden Worten klaubte, um seinen Gedanken Ausdruck zu geben.
„Das auf keinen Fall“, antwortete Jeremy ebenfalls auf Deutsch. „Aber wer sich versöhnen will, muss aufeinander zugehen.“
„Oh, Sie sprechen Deutsch!“ Jeremy wiegelte ab: „Ein wenig ...“
„Nein, Ihr Deutsch ist ziemlich gut.“
Jeremy verfiel wieder ins Englische. „Vielen Dank fürs Kompliment, aber Sie übertreiben. Meine Großmutter stammte aus Berlin, musste aber wie so viele in den Dreißigern das Land verlassen. Sie ging nach England, traf meinen Großvater und heiratete ihn. Meine Mutter hat noch perfekt Deutsch gesprochen – ich habe von ihr und Großmutter zwar viel gelernt, das meiste aber später vergessen. Erst seit ich häufig in der Schweiz bin, habe ich viel getan, um mein Deutsch aufzufrischen: Sprachkurse besucht, deutsches Fernsehen geschaut und so weiter. Allerdings habe ich immer schon ein Faible für deutsche Kultur, Literatur und Musik gehabt.“
„Echt? Hier aus Berlin stammt Ihre Großmutter?“ Der Deutsche hatte seine Nordkorea-Empörung sogleich vergessen und fand nun Jeremys Herkunft wesentlich interessanter. Derweil begannen J. D. und der Skandinavier ein Gespräch über Whisky. Mies lebendige Augen richteten sich wieder auf Jeremy. Ihm wurde warm ums Herz.
„Ja, ich habe mir vorgenommen, morgen, an meinem letzten Tag in Berlin, ein wenig Familienforschung zu betreiben und auf den Spuren meiner Großmutter zu wandeln. Sie entstammt einer Bankiersfamilie und wohnte in einer Villa auf Schwanenwerder. Wissen Sie, wo das ist? Hier habe ich die genaue Adresse: Inselstraße 40a.“
„Ja, das ist eine Reichensiedlung draußen am Wannsee.“
„Wannsee, wo damals diese Konferenz war?“
„Nun gut, Berlin ist voller Orte und Namen, die mit schrecklichen Erinnerungen beladen sind. Aber das ist eine tolle Gegend dort draußen. Sehr viel Natur. Sie werden bestimmt einen schönen Ausflug haben, vor allem wenn morgen wieder so ein strahlender Februartag ist.“
„Ja, denke ich auch“, meinte Jeremy, bemerkte, dass sein Whiskyglas leer war und griff gedankenverloren nach demjenigen Mies, das sie in seine Richtung bewegt hatte. Er suchte ihre Mandelaugen, fand sie und wollte erneut darin ertrinken. Doch plötzlich schwand ihr Lächeln und ihre Augen wurden schwarz. „Ich muss jetzt leider gehen, es ist schon spät“, sagte sie und stand auf. „Ich höre von Ihnen, ja?“
J. D. wollte ansetzen, etwas daherzuplappern, aber Jeremy kam ihm zuvor. „Sie hören mit Sicherheit von mir, Mie. Mit Sicherheit. Aber können Sie nicht doch noch ein Weilchen bleiben?“
„Das ist leider nicht möglich.“
„Sehr schade. Aber ich darf Sie vielleicht hinausbegleiten?“
Sie zuckte die Schultern. „Das ist wirklich nicht nötig.“
Jeremy war schon aufgestanden und neben ihr. Draußen leuchteten hell die Lichter des Marlene-Dietrich-Platzes. Ganz Berlin war ein einziger Film. Und Jeremy und Mie waren die Hauptpersonen, die übrige Welt nur bedeutungslose Statisten. Kalt und klar war die Nacht, und wären die Lichter Berlins nicht so hell gewesen, Jeremy hätte hinauf in die Sterne und hinter den Sternen hinaus in die Unendlichkeit sehen können, die sich mit dem gesamten Universum rings um Berlin ballte, wie um es schützend zu wärmen.
Da brach es aus Jeremy heraus. „Wie wäre es, wenn Sie morgen mitkommen würden nach Schwanenwerder? Wir machen einen Spaziergang, ich zeige Ihnen das Haus meiner Großmutter, wir kehren irgendwo ein, essen eine Kleinigkeit ...“
Sie drehte sich um, lachte ihn an. „Wollen Sie das wirklich?“
„Ja, ich will, natürlich will ich. Sagen wir am Nachmittag, nicht zu spät, fünfzehn Uhr? Draußen am Wannsee?“
„Mal sehen.“ Sie zögerte, aber es war kein unwilliges Zögern. Eher ein einladendes Zieren, so kam es Jeremy vor.
„Oder sollen wir uns vielleicht besser irgendwo in der Stadt ...“
In diesem Moment wurde Jeremy von der Seite angestupst. Ein junger Deutscher, offensichtlich stark alkoholisiert. „Mann, he! Sind Sie nicht dieser Schauspieler, dieser ...?“, fragte er auf Deutsch.
„Bitte, was soll das, was für ein Schauspieler?“, antwortete Jeremy. Er hatte Mühe, höflich zu bleiben. Eben noch war er Mittelpunkt und Hauptrolle des Universums gewesen. Jetzt wünschte er sich nur noch raus aus diesem Film.
„Na siehste, er hat ’nen amerikanischen Akzent!“, lallte ein zweiter, der zum Anstupser hinzugetreten war. „Bingo, Volltreffer!“
„Was für ein Schauspieler, fragen Sie noch? Na dieser, dieser ... dieser Schauspieler halt. Aus Hollywood eben. Der, der, wo zur Berlinale gekommen ist.“
„Nein, bitte. Ich bin Brite und bitte um Respektierung meiner Privatsphäre.“ Die betrunkenen Deutschen murmelten etwas Unverständliches und wankten von dannen.
Als sich Jeremy mit einem teils ungehaltenen, teils verlegenen Lächeln wieder umwandte, war Mie in der Nacht verschwunden.
Der kurze Moment der erfüllenden Ekstase war schon von ihr gewichen, als sich sein schweißnasser Körper von ihr löste und zur Seite rollte. Klamm und klebrig, irgendwie schutzlos lag sie auf dem Rücken, und mit einem Mal waren auch die Sorgen wieder da, die sie eben noch himmelweit unter sich zurückgelassen geglaubt hatte.
„Musst du denn morgen früh wirklich nach London fliegen?“
Er zündete sich seine obligatorische Zigarette an. Fuhr sich durchs kurze, rötliche Haar. Lachte kurz auf. „Schatz: Wir haben doch alles durchgesprochen. Ich muss ehrlich sagen, ich bin ziemlich müde und morgen muss ich sehr früh raus und zum Flughafen.“
„Aber kann das nicht noch einen Tag warten? Jetzt, wo ich das alles zum ersten Mal ohne den Rat meines Vaters zu bewältigen habe, lässt du mich allein? Du weißt, wie überfordert ich mich fühle.“
Der schwere Herzinfarkt Beat Bodmers, der bisher die Bankgeschäfte ganz allein geleitet hatte, machte Chloe nach wie vor sehr zu schaffen. Ihr Vater schwebte zwar nicht mehr in akuter Lebensgefahr, aber er bedurfte auf strenge ärztliche Anweisung hin größter Schonung, auf seinen Beistand konnte Chloe also bis auf weiteres nicht rechnen. Umso mehr setzte sie auf Jonathan, der sich mehr und mehr zu Beats rechter Hand entwickelt hatte.
Читать дальше