Jeremy hörte höchstens mit halbem Ohr zu. Er fühlte sich leicht und glücklich. Die Welt um ihn herum erschien ihm immer noch unwirklich und sie schien zunehmend nur noch unwirklicher zu werden, aber das war okay so. Er genoss diese Welt. Wirklich.
Diese Stupsnase. Das feine Lächeln. So strahlende Augen.
„Somit hätte die Katastrophe letztlich doch etwas Gutes gehabt, auch wenn das vielleicht makaber klingt, nicht?“
J. D. hatte Jeremy an die reichhaltige Whiskyauswahl der Vox Bar erinnert und beschlossen, sich vom Experten eine vertiefte Einführung geben zu lassen. Dabei hatte sich allerdings herausgestellt, dass der feiste Koreaner auf diesem ihm fremden Gebiet erstaunlich schlecht geeicht war. Zunehmend war er in seinen Gesprächsbeiträgen unkonzentrierter und alberner geworden – natürlich stets ohne eine Miene zu verziehen. Und irgendwann hatte er sich einfach umgedreht und die asiatisch aussehenden Damen am Nebentisch angesprochen, die dort mit zwei europäischen Herren saßen.
„Auf alle Fälle ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass sich etwas Derartiges niemals wiederholt. Oder wie sehen Sie das?“
Es hatte sich ein Gespräch J.D.s mit den vieren am Nebentisch entwickelt und Jeremy war froh gewesen, den in diesem Zustand und an diesem Abend ohnehin lästigen J. D. los zu sein, aber bald hatten die vom Nebentisch ihre Stühle herübergezogen und sich vorgestellt: ein skandinavischer Dokumentarfilmer und ein deutscher Reporter für ein Reisemagazin, die mit den zwei Damen – wohl Vietnamesinnen – in nicht näher durchschaubaren Beziehungen standen. J. D. hatte Jeremy als renommierten Ostasienexperten vorgestellt, woraufhin beide Männer angefangen hatten, ihn mit Fragen zur aktuellen politischen Lage in Fernost zu löchern – wenn nicht gerade J. D. mit Wünschen im Hinblick auf Jeremys Whisky-Expertise dazwischenging.
„Jetzt empfehlen Sie mir doch mal so ein rauchiges Torfmonster von dieser schottischen Insel, von der Sie gesprochen haben.“
Jeremy konnte stundenlang mit Verve über politische Entwicklungen im Fernen Osten dozieren (seine Frau Cathy konnte ein Lied davon singen) und er liebte die theoretische und praktische Beschäftigung mit schottischem Whisky und inzwischen auch mit amerikanischem Bourbon, aber heute fiel es ihm in beiden Fällen schwer, sich auf die Thematik zu konzentrieren. Wollte er doch am liebsten einfach nur sitzen, schauen, zuhören und sich ungeahnt wohlfühlen.
Das schwarze Haar. Das runde Kinn. Dunkel leuchtende Augen.
Aber er musste sich zusammenreißen. „Fukushima, ja ...“, begann er. Wie war noch einmal die Frage gewesen? „Fukushima dürfte in der Tat einen Wendepunkt bedeuten, aber wohin die Wende geht und ob sie von Dauer ist, ist noch keineswegs gesagt. Vorher war die Anti-Atomkraft-Bewegung in Japan praktisch inexistent gewesen, jetzt wollen knapp siebzig Prozent den Ausstieg. Trotzdem ist Japan von einem Ende der Atomenergie viel weiter weg als ihr in Deutschland. Aber da hat es ja auch erst einen Ausstiegsbeschluss und dann einen Ausstieg vom Ausstieg und schließlich den Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg gegeben. Mit einer Energiewende, die mittlerweile auch wieder rückgewendet wird, so wie ich das mitbekommen habe, so dass nun sicher bald der Ruf nach dem Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg laut werden wird.“ Jeremy war verwirrt. War er so betrunken? Nein, er referierte die nüchterne Faktenlage der deutschen Energiepolitik. „Auch in Japan hat es unter der Regierung Naoto Kan einen Ausstiegsbeschluss gegeben, den hat die Regierung Abe aber wieder zurückgenommen, sehr zur Freude der daran nicht ganz unbeteiligten Atomlobby von Tepco und Co. Die sehr wirksame Pro-Atom-Propaganda von Wirtschaft und rechter Politik kann sich immerhin auf das nicht zu leugnende Faktum berufen, dass Japan – wie natürlich auch Deutschland – kaum eigene Bodenschätze oder Energieträger wie Erdöl hat, wobei Japans Insellage das Problem noch verschärft. Da ist es schwierig, dauerhaft auf die Option Atomkraft zu verzichten. Deutschland hat immerhin die Braunkohle, und ich finde ...“
„Rauchiges Torfmonster!“ J. D. schien den Begriff zu lieben.
... finde dich umwerfend. Willst du mir allen Verstand rauben?
„Aber politisch muss der Super-GAU doch Veränderungen bewirkt haben“, meldete sich der skandinavische Dokumentarfilmer dazwischen. Jeremy wollte seinen Blick auf ihn richten, aber er konnte ihn nicht von diesen Mandelaugen abwenden, die seit einiger Zeit nur stumm im Raum schwebten und ihn anlächelten. Er wollte in diesen Augen ertrinken und alles andere vergessen. Können Augen denn lächeln? Ja, entschied er, definitiv. Und kann man in Augen ertrinken? Auch das geht. Leider nicht ohne irgendwann wieder aufzutauchen.
„Ja, wie gesagt, Fukushima hat das Problem der Rohstoffknappheit nur verschärft und daher in vielen Punkten eher zu einer Radikalisierung geführt als zu einem Umdenken. Siehe die Streitereien mit China um die Senkaku-Inseln und weitere Gebiete, wo große Rohstoffvorkommen vermutet werden. Der Rechtsruck nach der erneuten Wahl von Shinzo Abe zum Premier hat zusätzliches Öl ins Feuer gegossen. Überall wird die Uhr zurückgedreht. Und die ultranationalistischen Kreise um das offiziell zerschlagene rechte Netzwerk Waguni träumen schon von einer nuklearen Bewaffnung. Im Land von Hiroshima!“ Jeremy nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Und was das Torfmonster betrifft“, wandte er sich an J. D., „ist der zehnjährige Laphroaig wohl nach wie vor unübertroffen – jedenfalls in seiner Preisklasse.“
Den halblaut gemurmelten Zusatz hatte J. D. nicht mehr gehört, der sich bereits erhoben hatte und zur Bar gewankt war. Jeremy machte sich allmählich Sorgen, dass der heutige Abend den Rahmen seines entsprechenden Budgetpostens doch deutlich sprengen würde. Gut, Geld war bei dem Film nicht das Hauptproblem, Gao Feng mit all seinen Reichtümern war entschlossen, das Projekt zu einem Erfolg zu machen, aber Jeremy war gewissenhafter Rechner und Haushalter genug, um darauf zu achten, dass alle Ausgaben in einem verantwortbaren Rahmen blieben. Schließlich musste er Gao Feng nicht nur über die korrekte und ethisch vertretbare Anlage der Stiffungsgelder, sondern auch über die Filmausgaben Rechenschaft leisten.
Der deutsche Reisejournalist nickte. „Ich bin mal gespannt, wie das mit den Senkaku-Inseln weitergeht. Klar, wenn die Arktis weiter abtaut, sind dort noch mehr Bodenschätze und Gasvorkommen zu holen – aber das dauert noch. Und der Wettbewerb ist größer, da sind noch Russland, die USA, Kanada; selbst wir in Europa versuchen ein Stückchen vom Kuchen abzubekommen. Die Senkaku-Inseln sind für China und Japan im wahrsten Wortsinn naheliegender.“
„Allerdings hat auch China jede Menge eigene Probleme“, warf der Skandinavier eifrig ein. „Dicke Luft durch Smog, Unruhen, Korruption, soziale Spannungen, Spekulationsblasen, Rufe nach mehr Demokratie, Separatisten, blutige politische Richtungskämpfe ...“
„Nicht zu vergessen an der Brust einen unberechenbaren Vasallenstaat wie Nordkorea, der ungehemmt nukleares Know-how zum Beispiel an den Iran und wer weiß wen noch liefert“, wusste der Deutsche hinzuzufügen. „Und wahrscheinlich am liebsten die Atombombe an alle verkaufen würde, die ihm die nötigen Devisen dafür verschaffen. Deswegen testen die sie ja! Eine Art große Werbevorstellung für interessierte Terroristengruppen und Schurkenstaaten.“
„Na ja, Nordkorea, halb so wild“, ging J. D. dazwischen, der nun wieder von der Theke zurückgewankt kam. „Dieser sehr verehrte Herr hier“ – er wies mit der Hand auf Jeremy – „und meine Wenigkeit werden in Kürze da hinfliegen. Und im Herbst wollen wir das Filmfestival in Pjöngjang besuchen. Und dann führen wir die entscheidenden Gespräche, die schließlich die Wiedervereinigung Koreas und überhaupt die Befriedung Ostasiens herbeiführen werden.“ Dazu nickte er gewichtig. Jeremy wusste natürlich, dass auch J. D. wusste, dass seine Worte bestenfalls aufgeschnitten, eher aber einfach irgendein Blödsinn waren, um sich wieder ins Gespräch zu bringen und die beiden meist schweigenden Vietnamesinnen zu beeindrucken. Wenn sie nicht schwiegen, tuschelten sie. Auf Vietnamesisch. Und kicherten.
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