Sag mal, Sigga, glaubst du, daß mich meine Mutter nur geboren hat, damit ich jemand einen großen Strich durch die Rechnung mache, und daß der vielleicht im Weltraum ist? fragte ich.
Ich weiß nicht, was mit dir los ist, man kann heute mit dir nicht vernünftig reden, sagte Sigga und legte auf.
Kurz darauf klopfte die Frau von der Wohnung gegenüber an, um nach meiner Frau zu fragen, und als ich antwortete, daß sie Ferien im Norden mache, sagte sie, daß die Sprechanlage in unserem Treppenhaus im Block anscheinend kaputt sei, ein Bekannter von ihr wäre gekommen und hätte geläutet, doch man hätte es nicht gehört. Ich erschrak, doch die Frau sagte, daß es nicht so schlimm wäre, man könnte ja immer noch das Telefon benutzen und seinen Besuch zu einer bestimmten Zeit ankündigen, was nur höflich wäre und europäische Sitte, und dann würde man hinuntergehen und an der Eingangstür auf den Gast warten, wenn die Klingel kaputt wäre.
Ich pflichtete ihr aus vollem Herzen bei, und da fügte sie hinzu:
Diese gute Sitte kann man hierzulande nur einführen, indem man die Gegensprechanlagen in allen Häusern mindestens ein Jahr lang kaputt bleiben läßt.
Ich bekam einen Schreck, da ich es nicht mitbekommen hätte, wenn mein Freund vorbeigekommen wäre. Während ich mich mit der Frau unterhielt, rief J. an, so daß ich einer weiteren Diskussion über Gegensprechanlagen entkam. Als ich abnahm, fing er an, davon zu erzählen, daß er sich seit der Beerdigung von M. vor zehn Jahren immer noch nicht erholt hätte, sie hätte in ihm zum ersten Mal Erinnerungen aus seiner Jugendzeit geweckt, und er dachte, daß er bald mehr Verwandte und Freunde im Grab hätte als im Leben.
Das war eine ziemliche Lebenserfahrung, sagte er.
Beerdigungen neigen dazu, Erinnerungen zu wecken und die Leute zu denkenden Wesen zu machen, zumindest in Büchern, antwortete ich.
Das ist mir passiert, wo ich doch keine besonderen Talente habe, und ich bin nicht so bemerkenswert, daß ich als Vorlage in einem Roman taugen würde, sagte er. Ich sah das Blut der Fische daheim auf dem Kai vor mir, wie es in der Kälte zu feinen Kristallen gefror, und mitten in der Leichenrede des Pfarrers kam mir der Gedanke, daß mit meinem eigenen Blut etwas Ähnliches passiert sei. Die Erinnerung ist merkwürdig.
Ja, das kann man wohl sagen, sagte ich und hatte schon keine Lust mehr zuzuhören, doch er redete in einem fort, mit poetischen Schilderungen, wie ihn in der Kirche ein strenger Frost aus der vergangenen Jugendzeit befallen hätte.
Ich hörte nur mit einem Ohr desinteressiert hin, denn es ist jetzt der neueste Schrei hierzulande, daß alle so tun, als seien sie gläubig, und sagen, daß man sich in der Ungewißheit und dem Chaos zur Jahrhundertwende an Gott anlehnen müsse.
Gott ist heute das Größte! fügen sie hinzu und tun so, als ob diese Erkenntnis auf ihrem eigenen Mist gewachsen ist.
Vor der Beerdigung dachte ich, daß in meiner Jugend immer Regen war oder Tauwetter und Glatteis auf den Pfützen im fahlgelben Moor, aber so ändert Gott unsere Erinnerung an das Wetter und die Farben, sagte er.
Während ich versuchte zuzuhören, ergriff mich eine Niedergeschlagenheit, die ich mit der Unendlichkeit verbinde und von der ich glaube, daß sie in der absoluten Leere an einem unbekannten Ort im Weltall entstanden ist. Es ist nicht das Weltall der Sterne und Planeten, sondern die Weite des Universums, die, so habe ich das Gefühl, in jedem Menschen ist, da die Trauer zweifellos aus der Weite der Seele kommt. Sie stammt nicht von einem bekannten oder bestimmten Ort, sondern schleicht sich an uns heran aus der Erfahrung des Daseins, aus dem unendlichen Bereich des Gedankenlebens: Sie entspringt zugleich allem und nichts, auf dieselbe Weise wie die Angst. Ich hielt den Hörer etwas vom Ohr weg – das mache ich oft, wenn die Leute anrufen und lange reden –, so daß ich aus der Distanz nur den Klang der Worte hörte.
All das entsprang nur der Sehnsucht nach dem, der mit dem Schiff wegfuhr. Das wußte ich. Wahrscheinlich sehnte ich mich nach Trauer. »Du bist versessen auf Traurigkeit wie die Kinder auf Schokolade«, hat meine Frau einmal gesagt.
Als ich das Haus verließ und den Laugavegur hinunterging, um das schlechte Gefühl abzuschütteln, das überall in mir war, fiel mein Blick auf eine Gruppe von Leuten, die um irgend etwas in einer Hofeinfahrt herum zu stehen schienen. Gleichsam von dem Bedürfnis nach Trauer geleitet, stieg ich auf einen Absatz und sah eine ältere Frau an der Treppe liegen, eine andere, jüngere, war damit beschäftigt, sie zuzudecken. Während ich zusah, wie sie sich hinabbeugte und die ältere Frau streichelte, fragte ich mich, warum man sterbende Menschen oder Leichen immer zudeckt. Es scheint ganz egal zu sein, wo man sich aus dem Leben verabschiedet, innerhalb kürzester Zeit erscheint eine Decke aus dem Nichts oder aus Humanität, die sich auf diese Weise bemerkbar macht, wenn sie nicht mehr nötig ist. Denn was nützen eine Wolldecke und Gutherzigkeit angesichts des Todes? Welche Decke kann einen Körper wärmen, der in den Zustand seiner Erkaltung übergeht?
Die Frau, die auf dem Rücken dalag, das eine Bein leicht untergeschoben, war schon älter, sie war sorgfältig geschminkt, die Lippen waren bemalt und halbgeöffnet. Man sah die ebenmäßigen Zähne der Prothese, die in dieser Situation so unnatürlich waren wie die rote, leuchtende Schminke im Gesicht. Die halbgeschlossenen Augen schienen gebrochen, oder die Hornhaut war von einem trockenen Film überzogen, das linke Auge hatte sich in die Augenhöhle gedreht, als ob es im Augenblick des Todes nirgendwohin gerichtet wäre, um in der letzten Sinnlosigkeit des Lebens völlig blind auf nichts blicken oder starren zu können.
Da begann ich darüber nachzudenken, was im Leben es sein kann, das am meisten stirbt, wenn wir sterben, und ich stellte mir vor, daß es nicht der Körper als Ganzes war, sondern der Mund und die Augen. Sogleich begriff ich, daß der Zweck des Lebens höchstwahrscheinlich darin besteht, daß man andere sehen und mit ihnen reden kann: entweder mit sich selbst, mit Tieren oder mit anderen Menschen. Darüber zerbrach ich mir auf meinem erhöhten Platz den Kopf und betrachtete die Frauen, die aus allen Richtungen herbeiströmten, um ihre sterbende Geschlechtsgenossin zu streicheln, sie streichelten sie sanft, aber bestimmt, offenbar, um zu versuchen, sie wieder ins Leben zu prügeln, es mit Schlägen zu Gehorsam zu bringen und zur Rückkehr zu bewegen, so wie Mütter es mit unartigen Kindern machen, die sich nicht um ihre Regeln kümmern, und versuchen, sie zum Gehorsam zu prügeln. Ich sagte zu mir selbst: »Es ist egal, ob die Frau gestreichelt, ausgelacht oder beweint wird, einerlei, was man probiert, sie ist tot und unempfindlich gegen alles. Das Leben ist erbarmungslos und unbändig, und nur seine Gesetze können dem Körper den Tod aufzwingen.«
Kurz darauf war das heulende Herzauto am Schauplatz erschienen, die Männer, die darin saßen, stürzten heraus und hatten mit solchen Fällen offensichtlich Routine; sie sahen gleich, wie die Sache stand, und nahmen ihr Funksprechgerät zur Hand, einer hob fachmännisch mit zwei Fingern beide Augenlider der Frau an, die Augen bewegten sich dabei nicht heftig, verwundert und pulsierend vor Leben, beinahe spöttisch frohlockend, wie wenn die Lider eines Menschen, der tot scheint, aber nur in Ohnmacht gefallen ist, angehoben werden, sondern sie waren so leblos wie die Augenlider. Dann packten sie den Körper auf eine Bahre, schoben sie hinten in das Auto hinein, schlossen die Türen und fuhren weg. Die Gruppe der Frauen zerstreute sich, und danach war es so, als ob auf der Straße nichts geschehen sei. Zu meiner Erleichterung war meine Deprimiertheit weg, und ich rief meine Frau an und sagte:
Komm doch in den Sonnenschein hier im Süden, laß dir nicht länger im Norden auf die Brüste regnen.
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