Es war das letzte Mal, dass ich damals, im Herbst 1983, Kontakt zur Borussenfront hatte. Später lernte ich in Hamburg einen Fotografen kennen, der mir bestätigte, wie das auf der A 45 abgelaufen war. Er selbst war scharf auf die Fotos gewesen und hätte sie gerne eigenhändig gemacht, um seine noch junge berufliche Laufbahn schneller in Gang zu bringen.
Meine Kontakte in die Fanszene schliefen allmählich ein, es gab in den Jahren danach so viele andere interessante Themen, mit denen ich mich beschäftigen wollte. Erst als mein Sohn Mitte der 1990er Jahre in das Alter kam, ein vehementes Verlangen nach seinem ersten Stadionbesuch zu zeigen, änderten sich die Dinge wieder. Ich nahm ihn mit, und ich erinnere mich genau daran, wie ich versuchte, ihm bestimmte Regeln und Mechanismen des schönsten Spiels der Welt zu erklären. Da saßen wir also, stolzer Vater und neugieriger Sohn, auf der Tribüne, und ich musste doch sehr bald feststellen, dass es ihn so gut wie gar nicht interessierte, ob der Freiburger Abwehr mit lang geschlagenen Diagonalbällen beizukommen sein würde oder nicht. Der Bengel hatte nur Augen für die Stehtribüne. Mit diesem Tag begann auch ich, mich wieder mehr für den anderen Teil der großen deutschen Fußballkultur zu interessieren. Mit 11Freunde kam ein Magazin auf den Markt, das es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte. Die Perspektive der Fans auf das wöchentliche Geschehen stand im Mittelpunkt und ging über die Grenzen der Bundesliga hinaus. Abseitige Storys, viel Kult und manchmal auch ein bisschen Fußballkitsch – da konnte man auch lachen, wenn man selbst in der Fernsehkritik wieder etwas auf die Mütze bekommen hatte. Der Fußballfan bekam eine neue Plattform, nonkonformistisch und politisch, emanzipiert und ernst genommen, historisch und aktuell.
Die Lage im Spätherbst 2012
Im Spätherbst 2012 häuften sich auch in 11Freunde wieder die Berichte über die Zunahme des Einflusses der Neonazi-Szene in den Fußball. Im WDR entdeckte ich frische Bilder der Borussenfront, es gab sie wieder, wenn auch die SS-Runen von den Trikots verschwunden waren – die eindeutige Symbolik ist geblieben. Ich beschloss, wieder nach Dortmund zu fahren. Den „Grobschmied“ gibt es nicht mehr, die Jungs von damals sind auch nicht mehr aufzutreiben. SS-Siggi ist heute Kreisvorsitzender der neugegründeten Partei „Die Rechte“. Das Stadion ist größer, der BVB zu einem bedeutenderen Verein geworden. Allein auf der Südtribüne stehen jetzt fast 25.000 Fans, 60 bis 100 davon sollen dieses Gesamtkunstwerk als Rekrutierungsfläche für rechte Parteien oder Kameradschaften benutzen. Altes Thema, neuer Bericht: also wieder Recherche, wieder heimliche Interviews und wieder jede Mende Empörung in der Öffentlichkeit über die Wiedergeburt der Nazis in Dortmund.
Auch dieses Mal haben wir bekennende Neonazis und Opfer rechter Gewalt vor die Kamera bekommen, 29 Jahre nach meinem ersten Dreh in Dortmund hat sich also vordergründig nichts geändert.
Wie das nun mal so ist, wenn der Fanatismus die große anonyme Masse als Versteck wählt und von hier aus seinen eindimensionalen Weg einschlägt.
Am Ende der neuen Story in der ZDF-„Sportreportage“ konnten wir nicht klären, ob das Problem mit der Gefahr von rechts größer geworden ist oder nicht. Wir konnten aber wieder zu einem sorgfältigeren Umgang mit dem Thema auffordern. 60 bis 100 Neonazis: Wenn 0,2 bis 0,3 Prozent aller Zuschauer auf der Südtribüne in Dortmund einen rechtsradikalen Hintergrund haben, dann werden die selbstreinigenden Kräfte das Problem schon in den Griff bekommen können. 100 Jahre Fankultur in Deutschland haben schon ganz andere Sachen erlebt, davon können Sie sich in jedem Kapitel dieses Buchs einen Eindruck verschaffen.
Christian Winkle
Sie lieben nur ein Stück Tuch
Von den Fans der Blauen und Grünen im Circus Maximus
Eine Historie der Fankultur(en)
„Geht ihr aber ins Stadion, wer könnte da noch das Geschrei und den Lärm und die Aufregungen schildern, die Verrenkungen und Verfärbungen und zahllosen schweren Schmähungen, die ihr ausstoßt! […] Warum seid ihr so erregt? Was für ein Eifer ist das? […] Es geht nicht um ein Königreich, nicht um eine Frau, nicht um Leben und Tod.“ Dion Chrysostomos, griechischer Redner und Schriftsteller, im 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus (32,74f.)
Das fast abfällige Zitat des antiken Redners Dion Chrysostomos könnte auch von einem Zeitgenossen stammen und sich an Zuschauer eines Fußballspiels richten. Doch richtet sich die Kritik an die Zuschauer der Wagenrennen im ägyptischen Alexandria der römischen Kaiserzeit und liegt somit fast 2.000 Jahre zurück. Zwar sind nicht alle Zuschauer Fans, doch spricht aus dem Zitat des Dion Chrysostomos das Unverständnis vieler antiker Intellektueller für die Sportbegeisterung der Massen. Es stellt sich die Frage, ob eine so weit zurückliegende Äußerung für die deutsche Fankultur der vergangenen hundert Jahre überhaupt von Wert sein kann? Ist die kritische Haltung damaliger Eliten mit der heutiger zu vergleichen? Kann man für die antiken Kulturen überhaupt von einer Fankultur sprechen und wenn ja, welchen Beitrag kann die wissenschaftliche Aufarbeitung für die Gegenwart leisten? Diese und andere Fragen werden im Folgenden angesprochen.
Noch vor gut zwanzig Jahren hätte die kritische Haltung des antiken Redners auch bei vielen Historikern und Bildungsbürgern besonders in Bezug auf Fußball Zustimmung gefunden. Inzwischen jedoch haben die „Kinder der Bundesliga“ die Lehrstühle an den Universitäten erreicht, und dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Forschung, die seit geraumer Zeit wieder Interesse an der Sportgeschichte und auch am Fußball gefunden hat, wie beispielsweise der von Wolfram Pyta herausgegebene Sammelband „Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland“ (Münster 2004) zeigt.
Dass der Fußball mitten in der Universität angekommen ist, erfuhr der Autor dieses Beitrags auch in Sitzungen universitärer Gremien. Da kann es unmittelbar vor der Europa- oder Weltmeisterschaft schon mal vorkommen, dass bei der Terminierung von Vorträgen und Sitzungen durch die Intervention der Mehrheit der Professoren alles so weit wie möglich am Spielplan des Turniers ausgerichtet wird. Bei der Terminierung von Vorträgen auf ein sportliches und gar auf ein fußballerisches Ereignis Rücksicht zu nehmen, ja dies sogar in den Vordergrund zu stellen, wäre in den 1960er bis 1980er Jahren für viele Geisteswissenschaftler wohl undenkbar gewesen. Heute haben die „Kinder der Bundesliga“, jene „seit den frühen 1960er Jahren mit einer expandierenden Sportberichterstattung aufgewachsenen Alterskohorten, für welche die ‚Sportschau‘, Franz Beckenbauer und Günter Netzer, die Olympischen Spiele 1972 in München sowie die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land zu den vergemeinschaftenden Medienereignissen zählen“ 1, höhere Weihen erfahren. Sie leiten Fakultäten, Institute, Lehrstühle und haben in ihrer Jugend oder bei universitären Fußballturnieren selbst gegen den Ball getreten.
Mit welchen Fragen beschäftigen sich jedoch Wissenschaftler, wenn sie sich mit Fans auseinandersetzen? Eine schwierige Frage, denn bei allen sportlichen Veranstaltungen seit der Antike gibt es zwar Zuschauer, aber ab wann kann man von Fans sprechen, und was unterscheidet den Fan vom Zuschauer?
Der Begriff „Fan“ als Kurzform des englischen „fanatic“ ist letztlich auf das lateinische „fanaticus“ von lateinisch „fanum“ (ein heiliger, der Gottheit geweihter Ort) zurückzuführen. „Fanaticus“ kann mit „von einer Gottheit in Entzückung geraten, in Raserei versetzt“ oder einfach „begeistert, schwärmerisch, fanatisch“ oder „rasend“ übersetzt werden. Deutlich ist also in der lateinischen Sprache und damit in der römischen Antike der Bezug auf den religiösen Bereich. Im Englischen bezeichnet „Fan“ seit dem 19. Jahrhundert den Anhänger und besonders den Sportanhänger. Aber was ist mit dieser Begriffserklärung gewonnen? Der „Fan“ als Sportanhänger wäre damit eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts und für den Historiker, der sich mit der Geschichte der Fankultur beschäftigt, auch nur für diesen Zeitraum und die Moderne nutzbar. Doch was beschreibt der Begriff „Fan“ eigentlich? Hier lohnt ein Blick auf die Definition der jüngeren Soziologie: „Fantum“ ist eine längerfristige, leidenschaftliche „Beziehung zu einem externen, öffentlichen Objekt bei Investition von Zeit und Geld“ 2. Das Objekt der Leidenschaft ist hier bewusst offen gehalten, denn auch wenn dieser Beitrag sich mit dem Sportfan beschäftigt, gibt es eine Vielzahl von möglichen Objekten, z. B. aus dem Bereich der Musik. Die oben vorgenommene Definition, so man sie akzeptiert und den jeweiligen historischen Bedingungen anpasst, erlaubt eine Untersuchung des Phänomens für alle historischen Epochen. Die Geschichte der Fankultur(en) jedoch ist jung und hat erst mit dem Aufschwung der Sportgeschichte das Interesse der Historiker auf sich gezogen. Selbst die Literatur zu den Zuschauern von Sportveranstaltungen, die ja keineswegs Fans sein müssen, ist ausgesprochen begrenzt 3und vor allem auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Wenn der Sportzuschauer seit den 1970er Jahren immer wieder in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtungen rückt, so doch häufig reduziert auf die Themen Gewalt und Aggression, verbunden mit dem Interesse der Soziologie und Psychologie am Massenverhalten 4. Von Fankulturen im Plural muss nun aber gesprochen werden, wenn man die ersten Olympischen Spiele 776 v. Chr. als Ausgangspunkt nimmt und somit auf eine fast dreitausendjährige Geschichte des Sports blickt. Dieser Artikel spielt am Beispiel der Wagenrennen der römischen Kaiserzeit Ähnlichkeiten und Unterschiede des Phänomens „Fan“ im Sport durch.
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