„Mit dem Kochen haben Sie nichts zu tun. Einkaufen und Essenmachen, dafür haben wir am Vormittag eine Haushaltshilfe. Bloß der Abwasch ist Ihre Angelegenheit. Abends gibt es bei uns immer kalte Küche. Das ist gesund. Da können Sie sich allerdings ein bißchen bei nützlich machen. Und natürlich morgens das Frühstück. Das ist sehr wichtig. Auch für die Gesundheit. Das muß pünktlich um halb acht auf dem Tisch stehen, weil um neun Uhr die Praxis beginnt und ab halb neun schon Privatpatienten behandelt werden. Mein Mann trinkt koffeinfreien Kaffee mit Milch, ich trinke starken Tee, schwarzen Tee natürlich, mit Zitrone. Die Eier in kochendem Wasser drei Minuten. Die Brötchen bekommen Sie ab sieben beim Bäcker zwei Straßen weiter zum Strand runter. Sie selbst frühstücken schon vorher zusammen mit den Kindern in der Küche. Die Kinder sind, während wir frühstücken, im Kinderzimmer. Am Abend müssen die Kinder um halb acht im Bett sein, vor Beginn der Tagesschau muß im Kinderzimmer das Licht aus sein und absolute Ruhe herrschen. Was Sie dann machen, ist Ihre Sache. Wie gesagt, separater Eingang, wir sind da sehr tolerant. Aber dafür wollen wir von Ihrem Privatleben auch nichts wissen und überhaupt nichts mitkriegen. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine.“
An diesem ersten Abend wartet Anne vergebens im Bahnhof auf ihre Freundin. Eine gute halbe Stunde lang studiert sie Fahrpläne und Prospekte und Karten, bis sie nicht länger warten kann, weil ein paar junge Burschen auf sie aufmerksam werden. Also schleicht sie heim in ihren Keller und hofft auf den nächsten Abend.
Renate ist nicht früh genug weggekommen aus der kleinen Pension, in die es sie verschlagen hatte. Beinahe neun ist es schon, als sie zum Bahnhof kommt. Da kann sie dann auch nur herumstehen und warten und schließlich ebenfalls vor den abenteuernden Blicken davonlaufen. Dabei hat sie so viel zu berichten. Von dem winzigen Kämmerchen, das ihr Zimmer ist. Und von seiner traumhaften Lage: im Keller. Gleich neben der Küche und der gefährlich steilen Treppe nach oben. Und von diesen Leuten und und und.
Als die beiden Mädchen sich am dritten Tag auf ihrer Trauminsel endlich am Bahnhof treffen, fallen sie sich in die Arme, als hätten sie eine lange Seereise machen müssen, um sich wiederzusehen. Sie legen gleichzeitig los mit ihren Berichten, und die klingen bei beiden gleich trist.
„Zwei kleine Jungen ohne jede Erziehung. Dazu gehörten ein paar starke Männer mit Zwangsjacken. Und wenn ich mich durchsetzen will, dann beschweren sie sich prompt bei ihrer Mutter. Und die macht mir dann doch tatsächlich noch Vorhaltungen, und das vor den Kindern. Einfach unmöglich.“
„Den ganzen Tag soll ich Serviererin machen. Das nennen die Au-Pair-Mädchen. Weil die Serviererin ein Kind kriegt. Nur immer schwervolle Tabletts schleppen, aus dem Keller, wo die Küche ist, über eine irre steile Treppe in die erste Etage, in den Speiseraum und morgens auch noch in alle Zimmer. Einfach verrückt.“
„Dieser rechtlose Status eines Au-Pair-Mädchens ist unerträglich. Und die Kinder wissen ganz genau, daß man nichts zu sagen hat. Ich soll für die doch nur ein Spielzeug sein, an dem sie sich nicht weh tun können.“
„Das ist glatte Ausbeutung. Denn eine Serviererin kriegt richtigen Lohn und nicht nur dieses kleine Taschengeld, das ich kriege. Und dafür den Muskelkater in den Beinen und in den Armen, die Schmerzen in den Schultern. Ich glaub, ich spinne, daß ich so was für andere Leute mache.“
Sie haben nicht die Ruhe, sich in eine Eisdiele zu setzen. Sie sind so aufgeregt, daß sie spüren: wir passen da nicht hin. Sie passen tatsächlich nicht zu diesen Leuten, die herumssitzen und sich ihre Urlaubswochen genießerisch als ein Eis nach dem anderen auf der Zunge zergehen lassen. Jede mit einem Eishörnchen in der Hand, gehen sie im Eilschritt an den Strand.
„Es endlich mal sehen, das Meer.“
„Ja, guck es dir genau an, denn gleich ist die geregelte Freizeit schon wieder vorbei. Dann müssen wir ins Bett, um morgen früh fit zu sein.“
„Das sag ich dir, das mach ich nicht lange mit.“
„Ich auch nicht, da kannst du Gift drauf nehmen.“
„Aber laß uns erst mal sehen, wie sich die Sache entwickelt. Aller Anfang ist schwer, heißt es ja.“
„Na, wenn du meinst. Vielleicht wird es tatsächlich nachher besser.“
Als Anne und Renate sich zwei Tage später wieder treffen, vor der Eisdiele diesmal, da sieht die eine der anderen auf den ersten Blick an, was sie denkt. Nämlich dasselbe wie sie selbst: Nicht nur der Anfang ist schwer, das Ganze ist nichts.
„Ich packe morgen früh meine Sachen und sage der Pensionswirtin, daß sie selbst das Frühstück auf die Zimmer bringen kann. Lieber fahre ich nachhause und laß mich von meinen Eltern auslachen, als mich hier so ausnutzen zu lassen. Und dieser Entschluß steht felsenfest.“
„Gut, auch ich mach morgen früh Schluß. Nach dem Frühstück für die Kinder und mich werde ich den Eltern sagen, daß ich das weitere Gedeihen ihrer mißratenen Söhne ihrer liebevollen Fürsorge überlasse – genau wie ihre schmutzige Wäsche.“
„Die Leute hier, ich weiß nicht, die sind so was von grapschig, das gibt‘s doch gar nicht.“
„Und entschuldigen alles damit, daß sie nur so eine kurze Saison haben.“
„Früher sollen die sich von Strandräuberei ernährt haben.“
„Davon habe ich auch schon gehört. Falsche Lichter haben sie aufgestellt, damit vorbeifahrende Schiffe vom Kurs abkommen und stranden. Und die dann ausplündern, das war ihr Geschäft.“
Damit hatten wir uns so weit freigestrampelt aus unserer persönlichen Malaise, daß wir uns in die Eisdiele setzen konnten wie Touristinnen. Und uns zwei große Eis mit Früchten leisten. Sollte das doch die letzte Gelegenheit sein, ein bißchen Juist zu genießen. Und das mit dem Vorgeschmack der schon bald wiedererlangten Freiheit.
Wie die beiden Au-Pair-Mädchen sich am nächsten Morgen mit ihrem Gepäck am Bahnhof treffen, ist ihnen anzusehen, daß sie glücklich und unglücklich zugleich sind. Sie habe keinen Pfennig Geld bekommen, gesteht jede der anderen. Das Taschengeld sollte erst später gezahlt werden, die ersten Tage seien ja bloß Einweisung, habe es geheißen. Doch sind sie stolz darauf, daß sie sich durchgesetzt haben.
„Wir haben uns jedenfalls erfolgreich gegen die unverschämte Ausnutzung gewehrt. Wer sind wir denn.“
„Aber dafür ist nun auch schon das Ende der großen Reise gekommen. – Oder ob man hier auch bessere Jobs finden könnte?“
„Eine ganz neue Überlegung. Auch nicht schlecht.“
Zum Hinundherdenken haben die Mädchen noch genug Zeit bis zur Abfahrt des Inselbähnchens, das sich nach den Schiffsanlegezeiten richtet. Und die sind abhängig von Ebbe und Flut. Und sie haben bisher weder Ebbe noch Flut gesehen. „Jetzt nur keine Tränen“, ruft Renate ihre Freundin zur Ordnung.
Da spricht sie ein Mann an, der sich ihnen als der Leiter eines Kinderheimes vorstellt. „Hallo Mädchen, ich sehe, daß ihr gerade angekommen seid und nicht wißt wohin. Ich warte hier auf einen neuen Transport von Kindern, alles behinderte Kinder. Wenn ihr dafür was übrighabt, und wenn ihr meiner Frau in der Küche zur Hand gehen wollt, dann kann ich euch brauchen. Ihr könnt gleich mit dem Fuhrwerk mitfahren. Unterkunft und Verpflegung frei, ein kleines Taschengeld und eure geregelte Freizeit habt ihr auch. Denn die Kinder sind noch klein und müssen noch viel schlafen. – Na, habt ihr Lust?“
So taucht die Trauminsel Juist, gerade erst untergegangen im Sturm der Entrüstung, plötzlich wieder auf. Mit einem freundlichen Gesicht, mit einem schlichten Hallo Mädchen, mit einem Pferdefuhrwerk und mit einer richtigen Aufgabe, wie die beiden sich voller Stolz gegenseitig klarmachen. Mit einer großen Aufgabe.
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