Die Richterin ließ den Protokollzettel in der untersten Schublade verschwinden. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, Meldung zu machen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. So hatte sie nun zu ihren Zweifeln, ob sie eine Versagerin sei, auch noch mit der Frage fertigzuwerden, ob sie überhaupt noch neutral sei. Als Richterin stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite, habe ich gegenüber Schallenberg aufgetrumpft. Jetzt muß ich mir einreden, daß ich mich gerade mit der Unkorrektheit, die vorgeschriebene Meldung zu unterlassen, als neutral erweise. Gerade damit. Weil es nicht an mir liegen soll, daß Renate Hobbes gut wegkommt, sondern an ihrem guten Anwalt. Und dieser Schallenberg ist der einzige Anwalt weit und breit, der es schaffen könnte, sie herauszuhauen aus dem Schlamassel, in den sie sich gebracht hat. Mit offenen Augen und in voller Absicht. Mein Gott, ja: dolus directus. Und ich kann nicht einmal sagen: unnötigerweise. Weiß ich doch, warum sie getan hat, was man ihr jetzt vorwirft. Unsere Kleine-Mädchen-Träumereien. Damit bin ich praktisch mitschuldig geworden. Denn was beinahe wie eine Wette war, eine Lebenswette – die den tolleren Mann kriegt, ist die Siegerin –, das hat sie dahin gebracht, wo sie jetzt ist. Und mich dahin, wo ich jetzt bin. Und genau das bringt uns beide demnächst im großen Saal des Kammergerichts von Berlin zusammen. Ja, – aber daß unsere Lebenswege so wieder zusammenfinden könnten, wer konnte das ahnen.
Sie bekam die Akte Renate Hobbes nicht mehr vom Tisch. Sie las darin und suchte und suchte, als ob es um ihr eigenes Leben ginge. Und irgendwie tat es das ja auch. Beihilfe zur Entführung und Ermordung des Unternehmers Alex Heuchemer, so nannte die Staatsanwaltschaft das, was in den Flugblättern der Clique hieß: Gefangennahme und Hinrichtung eines Volkschädlings. Das auf einen Nenner zu bringen, das wird die Aufgabe von Manfred Schallenberg sein. Die Beklagte hat sich nicht zu den Tatvorwürfen geäußert. Typisch. Sie wird sich auch während des Prozesses mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dazu äußern. Das entspricht ihrer sturkonsequenten Art.
Das war in den letzten großen Ferien vor dem Abitur. Bei zwei Familien auf der Nordseeinsel Juist konnte man uns brauchen. Mehr wußten wir nicht. Doch – daß wir kein Geld verdienen würden, lediglich ein kleines Taschengeld für unsere Arbeit erhalten sollten, daneben aber freie Unterkunft und Verpflegung. Und natürlich geregelte Freizeit. Und das war es, was uns besonders gereizt hatte: das ganz andere Ferienerlebnis. Kein Problem, das Geld für die Bahnfahrt von den Eltern zu erbetteln. Es ging ja ums Initiativwerden, um Hilfsbereitschaft und Idealismus. Das gab den nötigen Rückenwind. Und der Begriff Au-Pair-Mädchen klang ja recht gut. Wenn die auch normalerweise im Ausland arbeiten, um die Fremdsprache zu lernen. Unseren Eltern war das Angebot auf Juist viel lieber als ein Auslandsaufenthalt. Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Ich habe es noch im Ohr.
Da sind die beiden Mädchen auf der Fähre, mit der sie von Norddeich übersetzen zu ihrer Trauminsel Juist. Deutlich zu sehen, daß sie sich fühlen – im Lande geblieben oder nicht – wie auf großer Fahrt. Und dann dieser kuriose Trip mit der nostalgisch schnaufenden Inselbahn von der Mole zum Bahnhof. Das Erlebnis hat begonnen. Wie sie mit dem Gepäck in der Hand aus dem kleinen Bahnhofsgebäude kommen, die paar Straßen hinunter gehen, in ein neues Leben hinein, das sich ihnen mit einem quirlig vollen Platz und bunten Blumenrabatten vorstellt. Da steht plötzlich der Fotograf vor ihnen und hat sie schon im Kasten. Wie er das ausdrückt. „Übermorgen abzuholen, meine Damen. Adresse steht hier auf dem Kärtchen. Wünsche Ihnen schöne Ferien!“
Da waren wir auf einmal Damen. Und Feriengäste. Das Foto muß ich noch irgendwo haben, überlegte Annemarie. Schade, daß ich damals nicht ein ganzes Album angelegt habe, mit Fotos, Fahrscheinen, Eintrittskarten und getrocknetem Dünengras. – Was war daran noch zu trocknen? Aber damals kamen ja noch nicht diese Unmengen von Bildern zusammen bei jeder Reise. Und wir waren ja auch keine Damen auf Urlaubsreise. Daß wir uns am nächsten Abend um acht im Bahnhof treffen wollten, um unsere ersten Erlebnisse zu besprechen, das hatten wir schon im Zug fest vereinbart. Auf was sonst sollte man sich festlegen, wenn man überhaupt keine Vorstellung von dieser Insel hat. Nach diesem ersten Treffen, nach dem ersten Tag als Au-Pair-Mädchen würden wir einen besseren Treffpunkt kennen.
Anne findet ihre Familie gleich am Hauptplatz, wo eine kleine Gartenanlage und ein Musikpavillon Kurort mimen. Ein imposantes Haus, das Wohnung und Praxis der Familie Dr. Silbrig enthält. Genaugenommen sogar zwei Praxen, denn Herr Dr. Silbrig und auch Frau Dr. Silbrig arbeiten als praktische Ärzte. Doch mit den zwei Behandlungszimmern und den beiden Wartezimmern – eins ist der Extraraum für Privatpatienten, damit die wartenden Kassenpatienten nicht sehen, wie diese zwischendurch ins Ordinationszimmer geholt werden –, mit Röntgenraum und Umkleidekammer und den Labors habe Anne nichts zu tun, erklärt die Ärztin. Nur mit den beiden Söhnen der Dr. Silbrigs, die drei und fünf Jahre alt und ein sehr freies Leben gewohnt seien.
„Das ist unsere stolze Zukunft. Wir werden unseren Söhnen später eine exzellente Ausbildung zuteil werden lassen“, sagt Dr. Silbrig. „Wenn sie nur erst mal groß wären“, ergänzt seine Frau. Und er darauf: „Sorgen Sie derweil dafür, daß sie in der Zwischenzeit nicht allzuviel Unheil anrichten.“
Das so gesagt, wie man zwei Koffer bei der Gepäckaufbewahrung abgibt. Damit hat er sie aus den Händen. Und die Sache ist für ihn erledigt. Für Anne aber ist das schon mehr wie ein doppeltes Klicken von Handschellen rechts und links an ihren schmalen Jungmädchenhandgelenken. Womit zwei Delinquenten an sie gefesselt sind. Transportsicherung. Bis sie endlich groß sein würden. Annes Handgelenke sind natürlich nicht die ersten und würden auch nicht die letzten sein, die dafür herhalten müssen. Ein billiges Verfahren nennt Frau Dr. Silbrig das. Sie selbst sei nun mal von ihrer hochqualifizierten Ausbildung her zu teuer, um den ganzen Tag auf die Kinder aufpassen zu können. Und die Mädchen, die herkämen und ihr diese Belastung abnähmen, die hätten dafür die Möglichkeit, sich schon im Umgang mit Kindern zu üben und sich so auf ihre zukünftige Rolle als Mutter vorzubereiten.
Daß ich selbst später auch einmal zu hochqualifiziert sein könnte für diese Rolle, das habe ich nicht erwidert, wohl auch gar nicht gedacht, überlegte Annemarie. Die Ärztin war ja auch noch nicht fertig mit ihrem Einführungsvortrag.
„Und diese Chance haben Sie in einem kultivierten Haushalt in einem Kurort, müssen Sie bedenken, und das bei freier Unterkunft und Verpflegung. Und ein Taschengeld bekommen Sie noch obendrein. Gar nicht zu sprechen von der unbezahlbar guten Luft, die Sie hier atmen. Etwas ganz anderes als verpestete Großstadtluft.“
„Aber das ist die berühmte Berliner Luft, die wir zuhause haben“, muß das Mädchen da doch widersprechen. Bemüht, das als eine witzige Bemerkung erscheinen zu lassen. Ein Vortrag über Autoabgase und über Juist als Insel ohne Autos und über das einmalige Reizklima der Nordsee ist die Folge, über den Salz- und Jodgehalt der Luft und so weiter, mit noch dreimal „unbezahlbar“. Da kann das Au-Pair-Mädchen nur noch heftig zustimmend nicken. Genau wie bei der Zuweisung des Zimmers. Ein Verschlag im Keller, neben dem Heizungsraum.
„Mit separatem Eingang“, sagt Frau Dr. Silbrig und zeigt auf die Waschküchentreppe an der Rückseite des Hauses. „Das alles gehört zu Ihrem Reich“, macht sie eine weite Armbewegung. „Natürlich nur die persönliche Wäsche der Familie. Mit der Praxiswäsche haben Sie nichts zu tun, die wird rausgegeben. Und sogar ein Teil der Haushaltswäsche wird auswärts gewaschen. Die geht über die Geschäftsbücher, weil das absetzbare Betriebskosten sind. Aber was die Leibwäsche betrifft, die ist Ihre Angelegenheit.“ Und zeigt ihr, wie die Waschmaschine zu bedienen ist und wo sie das Bügelbrett auflegen und das Bügeleisen einstecken kann.
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