Villy Sørensen
Seneca
Ein Humanist an
Neros Hof
Saga
Einleitung
I. Mythos und Philosophie
Mythos und Geschichte
Seneca, ein Altersgenosse Jesu, wirkt in vieler Beziehung modern. Die Probleme, auf die er als Staatsmann an Neros Hof stieß und über die er als Dichter und Philosoph schrieb, der Konflikt zwischen Realpolitik und humanen Idealen, zwischen der Forderung nach politischem Engagement und dem Hang zu ungestörter Selbstverwirklichung, all diese Probleme sind auch in der Gesellschaft unserer Tage aktuell. Seine humanistischen Ideen sind für uns heute so selbstverständlich, daß wir leicht übersehen, daß sie damals weniger selbstverständlich und origineller waren.
Wenn Seneca uns verwandter erscheinen mag als andere Denker, die uns zeitlich sehr viel näher stehen, dann hängt das natürlich mit der Tatsache zusammen, daß das moderne Europa sehr viel mehr mit der Großstadt Rom gemein hat als mit der kleineren und geschlosseneren Gesellschaft des vorindustriellen Europa. Rom mit seiner Gigantomanie, seinem Mangel an gemeinsamen geistigen Werten, seinem Reichtum und seiner Armut, seinem Lebensgenuß und seinem Lebensüberdruß, seinem Verlangen nach Unterhaltung und Erlösung, seinem Individualismus und seiner Massenpsychose, dieses Rom ist der Präzedenzfall unserer eigenen Großstadtzivilisation. Deshalb kann man Seneca zwar von unserer eigenen Zeit her verstehen, möglicherweise begreifen wir diese aber auch besser von der seinen her. Mit den Unterschieden werden auch die Ähnlichkeiten zwischen damals und heute deutlich.
Der größte Unterschied kam mit der Zeit. Jeder Mensch ist durch seine Zeit geprägt, in der Antike verging die Zeit jedoch langsamer als heute, und Senecas Zeit war sehr viel länger als unsere. Die stoische Philosophie, zu der er sich bekannte, war 300 Jahre vor seiner eigenen Zeit entwickelt worden. In seiner Naturphilosophie beruft er sich ohne Unterschied auf Denker seines eigenen 1. Jahrhunderts n. Chr. neben solchen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Zwar konnte er mit seiner logischen Vernunft alte Theorien kritisieren und an den Fortschritt der Wissenschaft glauben, aber ein objektives, wissenschaftliches Kriterium zur Unterscheidung von richtig und falsch besaß er nicht. Eine Forschung, die Forschung, deren neueste Ergebnisse frühere Theorien veralten lassen und vor deren übermenschlicher Autorität alle sich beugen müssen, war ihm unbekannt. Dies mag andeuten, daß es – so modern Senecas humanistische Ideen im übrigen auch gewesen sind – zwei moderne Ideen gab, zu denen er (und das gesamte Altertum) nicht vorstieß, nämlich die Objektivitäts- und die Entwicklungsidee, die beiden in der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation zentralen Ideen, die den entscheidenden Bruch mit der primitiven Mentalität bezeichnen.
Da die Naturwissenschaft der Wegbereiter des Entwicklungsglaubens ist, hängen diese beiden Ideen eng zusammen. Das unwissenschaftliche Gefühl, hinter den Phänomenen der Natur verberge sich irgend etwas, läßt den Menschen mit Eingriffen in diese Phänomene vorsichtig umgehen. Wenn feststeht, daß die Dinge von vornherein einen Sinn haben, dann kann der Mensch selbstverständlich nur schwer neue Dinge schaffen, die besser sind. Die Utopie der Römer lag nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, im „goldenen Zeitalter“, wo die Menschen nach Senecas Auffassung in Harmonie mit sich selbst und miteinander gelebt, alles gemeinsam und die Besten zu Führern gehabt hatten, die keine Macht ausübten, sondern dem Volk einen Dienst erwiesen. Verändert worden war dieser Zustand durch das Privateigentum, das den Grundstein zu Hab- und Machtgier gelegt hatte, die folglich Produkte der Zivilisation, nicht der Natur waren.
Diese kulturpessimistische Auffassung steht jedoch in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem kulturellen Selbstbewußtsein, das die Griechen, und nach ihnen die Römer, alle anderen Völker als Barbaren bezeichnen ließ. Seneca mußte in anderem Zusammenhang auch erkennen, daß kräftige und wie aus einem Guß geschaffene Naturen, wie z. B. die Germanen, auch vor ihrer Zivilisierung bereits aggressive Neigungen besaßen: „unvollkommen ist ihnen die Lebenskraft, wie bei allem, was ohne Gestaltung seiner selbst durch die Güte allein der Natur aufwächst.“ 1
Da diese beiden Betrachtungsweisen genaugenommen einander ausschließen, ist es verlockend, die eine als „mythisch“ zu verwerfen und die andere als „historisch“ zu akzeptieren, doch erstens unterschied man im Altertum nicht so genau zwischen Mythos und Geschichte, und zweitens wäre es sicher ebenso einseitig, wollte man entweder der Natur oder der Zivilisation das ausschließliche Verdienst für das Gute oder die ganze Verantwortung für das Böse im menschlichen Leben zuschreiben. Kulturpessimismus und Kulturoptimismus verhalten sich, um es mit neueren Modewörtern auszudrücken, komplementär oder dialektisch zueinander, und sie lassen sich vereinen, wenn man davon ausgeht, daß der Mensch nicht von Natur aus „barbarisch“ ist, es jedoch leicht werden kann, wenn er unter veränderten Bedingungen so bleibt, wie er war.
Anfangs legte der Mensch seine unbewußte Seele in die Dinge hinein und erlebte sie als lebendig, so wie er auch die Geschichte seiner Gesellschaft und den Kreislauf der Natur als Einheit erlebte. Im Laufe seines Bewußtwerdungsprozesses zog er seine Seele aus den Dingen heraus und schuf neue Dinge, schuf mit anderen Worten durch wissenschaftliche Erkenntnis und Ausnutzung der Natur Geschichte. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß sich die Natur auf die Dauer nicht damit abfindet, nur als Objekt betrachtet und behandelt zu werden, und was für die äußere Natur gilt, scheint auch auf die menschliche zuzutreffen: der Mensch läßt sich nicht an alles anpassen, will man seiner Natur nicht zu nahe treten. Vor diesem modernen Hintergrund ist die mythische Vorstellung von der zivilisatorischen Entwicklung als einem Abfall von der Natur keineswegs so primitiv, daß sie nur historisch gesehen interessant erscheint, ebensowenig wie der Versuch der Stoiker, das Menschenrecht in jener Natur zu begründen, die in der Gesellschaft nicht zu ihrem Recht kommt. Der Mythos erzählt uns nicht nur etwas über die Erlebnisweise des primitiven Menschen, sondern verrät uns auch etwas von der primitiven Erlebnisweise des Menschen. Die Auffassung, daß der Mensch nur durch seine Zeit und nicht zugleich auch durch die Vergangenheit der Menschheit geprägt sei, kann nicht mehr als wissenschaftlich haltbare historische Anschauung gelten.
Die Römer waren für die von ihnen entwickelte Zivilisation nicht geschaffen. Aus dieser Spannung erwachsen die humanistischen Ideen als Vorstellungen von einer anderen Ordnung als jener Gesellschaftsordnung, die nicht mehr als die Ordnung der Natur empfunden wird. Die Philosophie – die griechische Philosophie – entsteht mit dem Gedanken, daß die Dinge anders sein könnten, oder genauer, mit dem Gedanken, daß sie in Wirklichkeit, von Natur aus, von Anbeginn an anders sind, als sie geworden und aufgefaßt worden sind. Das enge Verhältnis der Griechen und Römer zum Ursprünglichen ist ein naheliegender Grund dafür, diesen Bericht über einen griechisch inspirierten römischen Humanisten von den Anfängen her aufzurollen: dem Ursprung der griechischen Gedankenwelt in einer mythischen Vorstellungswelt ( Kapitel I), dem historischen und mythischen Hintergrund der Römer ( Kapitel II).
Goldenes Zeitalter und Zivilisation: Hesiod
Mit dem Mythos vom goldenen Zeitalter, das am Anfang war, hielt der Mensch des Altertums an einer, freilich romantischen, Erinnerung an einen sozialen Zustand fest, den man insofern durchaus als einen Naturzustand bezeichnen kann, als der primitive Mensch in engerem Kontakt mit der Natur lebte als der zivilisierte, d. h. der Mensch, der in einer Stadt lebte. Der Übergang von einer naturgebundenen Gesellschaft, in der alles sich gleich bleibt, zu einer städtischen Gesellschaft, in der vieles neu ist, ist
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