Diese Übertragung der kosmischen Harmonie auf die Gesellschaft mußte jedoch schwerer fallen, wenn wachsende Gegensätze den sozialen Hintergrund für den Aufstand der Moral abgaben. Heraklit, der das Universum als eine Einheit von Gegensätzen und den Krieg als den Vater aller Dinge begriff, hatte auch sehr viel Sinn für soziale Disharmonie. Er konnte sich wünschen, seine Mitbürger in Ephesos möchten ihren Reichtum bewahren, damit ihre moralische Schlechtigkeit so richtig an den Tag treten könne, und er wollte sie gern hängen sehen, weil sie ihren vortrefflichsten Bürger mit der Begründung verwiesen hatten, daß niemand unter ihnen der Beste sein solle. Fügt man hinzu: „Gesetz heißt auch dem Willen eines einzigen folgen“, und denkt man an die Anekdoten, wonach Heraklit weinte, wenn er sich unter Menschen befand – ob der Torheit dieser Menschen –, dann erscheint uns Heraklit als der erste der ersten Philosophen, von dem wir uns einen lebendigen Eindruck verschaffen können: ein pessimistischer Geistesaristokrat, der das Problem der Demokratie erfaßt hatte, daß nämlich die bürgerliche Gemeinschaft, die nicht mehr natürlich in der Tradition verankert ist, sondern auf dem Gesetz aufbaut, vernünftige Bürger voraussetzt. Ein paar seiner „dunklen“ Fragmente umreißen das Problem ganz deutlich: „Wenn man mit Verstand reden will, muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen; denn dieses gebietet, soweit es nur will und reicht aus für alle (und alles) und ist sogar noch darüber.“ Doch „obschon der Sinn (logos) gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht“, eine private Vernunft.
Eines stand fest für Heraklit, wenn alles andere auch floß: das Gesetz des Ganzen, das sich mit der Vernunft erkennen läßt, nur sind die wenigsten dazu vernünftig genug. Ein halbes Jahrhundert später, als die Bürgerschaft nicht mehr (wie Heraklit es ausgedrückt hatte) „für ihr Gesetz wie für die Mauer kämpfen“ 16mußte, sondern das Gesetz und das Bürgertum gesiegt hatten und die griechische Demokratie voll entwickelt war, da war es schwerer, die Verankerung des (gesellschaftlichen) Gesetzes in dem einen göttlichen (Natur-)Gesetz zu erblicken. Im demokratischen Staat ist es nicht Gesetz, daß man dem Willen eines einzelnen folgt, wohl aber erlaubt, daß man seinem eigenen Geltung verschafft. Die sogenannten Sophisten, Lehrer der Lebensklugheit, machten es zu ihrem Beruf, die Bürger darin zu unterweisen, wie man dies am besten anstellte. Sie zogen die Konsequenzen aus der Tatsache, daß verschiedene Menschen nicht zu der gleichen Auffassung von der gleichen Sache gelangen, und schlossen daraus, daß die Vernunft nicht an sich existiere, sondern eben nur als die „private Vernunft“ des einzelnen Menschen. Mit seinem berühmten Satz, wonach der Mensch, der einzelne Mensch, daß Maß aller Dinge ist, machte sich Protagoras (um 450) zum Fürsprecher eines Werte- oder Moralrelativismus, der für die Moral der Gesellschaft gefährlich werden, das Freiheitsbewußtsein des Individuums aber befördern konnte. Die Sophisten haben den später oft benutzten Ausdruck „in Übereinstimmung mit der Natur leben“ geprägt, und unter Natur verstanden sie nicht die äußere Natur, die kosmische Harmonie, in der die älteren Naturphilosophen die Begründung des Gesetzes suchten, sondern im Gegenteil die natürlichen Triebe und Bedürfnisse, die das Gesetz zu zügeln sucht. Für die Sophisten war das Gesetz nur eine Satzung, eine Konvention, eine willkürliche Einrichtung im Interesse der Herrschenden – sie sind die ersten radikal rationalistischen antiautoritären Denker. Intellektuelle Tätigkeit konnte nun zum ersten Male als gesellschaftszersetzend begriffen werden. Im Jahre 432, ein Jahr vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, verabschiedete man in Athen ein Gesetz gegen Gottlosigkeit, das sich gegen die Naturphilosophen und Sophisten richtete.
Das Gute und der Staat: Sokrates und Platon
Wenn die Sophisten das Recht des Individuums in seinen natürlichen Neigungen begründeten und allgemeingültige Kriterien für das Rechte zurückwiesen, so konnten sie letzten Endes in die Lage geraten, das Recht des Stärkeren zu verteidigen. Die Sophisten kennen wir freilich vor allem durch Platon, der ihren Werterelativismus bekämpfte und ihn vielleicht deshalb besonders hervorhob. In seinen Dialogen ließ er Sokrates in heftiger Diskussion mit den Sophisten auftreten und ihre Meinungen und Argumente ad absurdum führen.
Sokrates versuchte sich gegenüber dem Moralrelativismus der Sophisten nicht als Moralprediger, sondern suchte zu beweisen, daß es logisch unhaltbar sei, die allgemeinen Moralbegriffe (von Gut und Böse, Recht und Unrecht) aufzugeben, die die Bedingungen eines sinnvollen Gesprächs (und Zusammenlebens) bilden. Im Sinne dieses sokratischen Geistes wählte Platon für seine Schriften die Dialogform. Das Gespräch unterscheidet sich von der Rede dadurch, daß es nicht private Meinungen doziert, sondern die gemeinsamen Voraussetzungen in Erscheinung treten läßt: Sokrates verkündete das Gute und das Wahre nicht, sondern ließ es hervorstrahlen oder durch seine Abwesenheit glänzen.
Sokrates’ ironische Gesprächskunst (die Grundbedeutung des Wortes Dialektik) scheint „negativer“ gewirkt zu haben als die Überredungskunst der Sophisten. Nachdem Athen im Peloponnesischen Krieg von Sparta besiegt worden war (404), lag es nahe, daß die Athener eine innere Ursache der Niederlage im Verfall der Sitten erblickten; Sokrates, der sich stets darum sorgte, „nichts Ruchloses und nichts Ungerechtes zu begehen“, 17wurde angeklagt, an andere Götter als die des Staates zu glauben und die Jugend zu lehren, ein Gleiches zu tun. Wenn er dies auch abstritt, so leugnete er doch nicht, daß zwischen der staatlichen Auffassung von den Göttern und seiner eigenen ein Unterschied bestehe: „Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gott mehr als euch“, 18sagte er zu seinen Mitbürgern, und in seiner Apologie richtete er die denkbar härteste Anklage gegen den Staat: „Notwendig muß, wer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches.“ 19
Sokrates, der die Auffassung der Sophisten vom Gesetz als einer willkürlichen Einrichtung bekämpfte, gab ihnen so ironischerweise recht. Was im Staat für Recht und Gesetz galt, war tatsächlich willkürlich – und genau das war das Falsche. Sache des einzelnen war es dann, nicht das unter den herrschenden Umständen Beste für sich selbst, sondern das Gute zu suchen im Kampf gegen die widrigen Umstände, die das Gute auf das Opportune reduzieren, auf das, was gut für einen selbst ist. Wenn der einzelne in seinem Kampf für das Rechte dem Staat widerstehen muß, dann muß er auch über dem Staat stehen können. Sokrates’ Individualismus war insofern radikaler als der der Sophisten, zu denen ihn die Zeitgenossen im übrigen zählten.
Sokrates ist laut Hegel 20geradezu der „Erfinder der Moral“, vor ihm wußten die Griechen nichts von einer absoluten Moral, nichts vom absoluten Guten, sondern kannten nur eine soziale Sittlichkeit. In ihrem Kampf darum, den Staat auf das Gesetz und die Vernunft zu gründen (statt auf Privilegien und Tradition), war den Bürgern der Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen Gesetz, nach dem das Individuum, und dem moralischen Gesetz, nach dem der Staat beurteilt werden kann, nicht bewußt gewesen. Erst in der Krise des Staates stellt sich die Frage nach dem Ideal, von dem der Staat abweicht. In der Demokratie war es natürlich, nach dem zu streben, was gut für einen selbst ist, und – mit den Sophisten – das Streben danach als natürlich zu begreifen. Ausgehend von Sokrates’ Begriff des Guten als das, was unter allen Umständen gut für alle ist, war es besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu verüben. Ein guter Mensch kann Unrecht erleiden, aber: „Einem guten Mann kann nichts Böses widerfahren.“
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