Jakob Simmank
Einsamkeit
Einleitung Alle haben Angst vor Einsamkeit
2013 tritt der Neurowissenschaftler John Cacioppo vor die Kameras einer TED-Talk-Sendung und spricht über die »Tödlichkeit der Einsamkeit«. Er spricht darüber, dass Menschen soziale Wesen sind, denen die Gemeinschaft Sicherheit gibt. Die Evolution habe in uns ein Bedürfnis nach Nähe und Verbindung zu anderen Menschen hinterlassen. Genau wie Hunger uns zeige, dass wir essen müssen, zeige uns das Gefühl der Einsamkeit, dass wir uns mit Menschen umgeben müssen. Einsamkeit sei ein überlebenswichtiges Signal.
Dann erscheint auf der Leinwand hinter Cacioppo ein Balken, der sich in die Höhe schraubt: Luftverschmutzung erhöht die Wahrscheinlichkeit, frühzeitig zu sterben, um fünf Prozent, schweres Übergewicht um zwanzig, viel Alkohol trinken um dreißig Prozent. Der Balken wird rot. Einsamkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit um fünfundvierzig Prozent[1].
Inzwischen sind derartige Zahlen für viele Menschen keine Überraschung mehr. Längst liest und hört man überall, dass gefühlte Einsamkeit das Risiko erhöht, dement zu werden, Krebs zu bekommen oder einen Herzinfarkt. Sich einsam zu fühlen sei so schlimm, wie jeden Tag fünfzehn Zigaretten zu rauchen, und damit ein großes Problem für die öffentliche Gesundheit. Einsamkeit werde immer häufiger, auch das liest man. Sie sei gar zu einer Epidemie geworden, die moderne Gesellschaften heimsuche, sagen manche Forscher[2]. Sie sei kein harmloses Gefühl, das oft unangenehm ist, aber irgendwie menschlich, sondern eine psychische Störung[3] mit massiven Folgen. Der Psychiater und Bestsellerautor Manfred Spitzer, der für steile Thesen bekannt ist, machte aus der Einsamkeit kurzerhand eine Krankheit.
Ähnlich wie bei Krebs oder auch in einer Pandemie, wie wir sie gerade erleben, ist der Schritt von hier zur Kriegsmetaphorik kein weiter: »Lasst uns einen Krieg gegen Einsamkeit führen«, schrieb etwa ein Kolumnist der New York Times [4]. Die Einsamkeit soll am besten völlig ausgelöscht werden. Anders lässt sich auch der Name der einflussreichen britischen Campaign to End Loneliness nicht verstehen – genauso wenig wie Theresa Mays Äußerungen dazu.
Die damalige britische Premierministerin rief 2018 eine »nationale Mission aus, die die Einsamkeit in unserer Lebenszeit beenden soll«[5]. Sie machte aus der Staatssekretärin für Zivilgesellschaft eine Einsamkeitsbeauftragte, a Minister for Loneliness. Auf diesen Vorstoß reagierten auch deutsche Politiker. Karl Lauterbach etwa, Gesundheitsexperte der SPD, forderte einen deutschen Regierungsbeauftragten für Einsamkeit.[6] Und die Berliner CDU schlug einen Posten für die Koordinierung der Freiwilligen vor, die in der Hauptstadt einsamen Menschen helfen wollen[7]. Wissenschaftler, Medien und Politiker, so scheint es, sind sich weitestgehend darin einig, dass Einsamkeit primär eines ist: ein »Killer« (Spitzer), ein Gesundheitsrisiko, etwas, das viel Leid verursacht und deshalb bekämpft werden muss.
Im vorliegenden Buch will ich mich mit dieser Diagnose auseinandersetzen. Denn sie ist falsch und irreführend. Ich werde mich dafür zunächst auf die Suche danach machen, warum Einsamkeit krank machen soll. Dann werde ich zeigen, dass Einsamkeit eine Kehrseite hat, dass sie ein hochgradig ambivalentes Gefühl ist. In der zweiten Hälfte des Buches werde ich darlegen, dass die Debatte um Einsamkeit zu sehr auf das Individuum fokussiert und zu wenig auf die Gesellschaft.
Es ist mir wichtig zu betonen, dass es nicht darum geht, das Leid von Menschen herunterzuspielen, die sich einsam fühlen. Einsamkeit kann wehtun. Das gilt insbesondere für die ungewollte Einsamkeit, wie sie viele gerade wegen des neuen Coronavirus erleben. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass eine falsche Einbettung und falsche Grundannahmen eine fruchtbare Debatte verhindern. Dieses Buch will deshalb vor allem eines: eine andere Perspektive auf ein gesellschaftliches Problem aufzeigen.
Kapitel 1 Wie Einsamkeit zur »Krankheit« wurde
Wer einmal Paviane im Zoo oder in der Savanne Ostafrikas beobachtet hat, dem ist vielleicht aufgefallen: Die Primaten haben nicht nur klare Hierarchien, sondern sind auch soziale und liebevolle Wesen. Mütter nehmen ihre Kinder in den Arm, Väter spielen mit ihnen. Bis sie ein Jahr alt sind, sitzen die Pavianjungen auf dem Rücken der Mutter. Sie krallen sich mit ihren Händen im Fell fest oder umschlingen den Bauch der Mutter mit ihren Beinen, um nicht herunterzufallen. Es sind dabei aber nicht allein die biologischen Eltern, die sich um die Jungtiere kümmern. Schwestern und nichtverwandte Weibchen helfen sich gegenseitig dabei, ihre Kinder großzuziehen, und Männchen helfen, Essen zu besorgen. Das zeigt Wirkung. Je besser ein Weibchen es schafft, Beziehungen zu anderen Weibchen aufzubauen, je mehr Vertraute es gewissermaßen hat, desto größer ist die Chance, dass seine Kinder am Leben bleiben, erwachsen werden und selbst Nachwuchs bekommen[8].
Das Beispiel der Paviane ist deshalb so interessant, weil es uns etwas zeigt, das für die mit Pavianen eng verwandten Menschen genauso gilt, wahrscheinlich sogar noch stärker: Soziale Bindungen können für das Überleben elementar sein[9].
Und das hat Folgen: Wenn mehr Kinder aus Familien überleben, die besonders gut sozial integriert sind, setzen sich Gene durch, die Menschen sozialer machen. Das dürfte die Kultur des menschlichen Zusammenlebens geprägt haben, was sich wiederum auf unseren Genpool ausgewirkt haben wird. Diese Ko-Evolution von Kultur und Genen[10] hat den Menschen »ultrasozial« gemacht, sagen Biologen. Wenn der Mensch eines besonders gut kann, dann ist es, mit anderen zu kooperieren. Was abstrakt klingt, ist für das Verständnis der menschlichen Einsamkeit und ihrer möglichen Folgen essenziell.
Aber bleiben wir zunächst bei der »Ultrasozialität«. Noch stärker als Primaten sind wir Menschen auf Hilfe angewiesen, um unseren Nachwuchs (und damit unsere Gene) durchzubringen. Menschliche Kinder bedürfen besonders viel Zuneigung und Pflege, denn sie werden so unreif geboren wie die Jungen keiner anderen Säugetierspezies: Babys können zu Beginn des Lebens kaum sehen, sich nicht fortbewegen und kaum kommunizieren. Das Gehirn menschlicher Neugeborener hat einen Gutteil seiner Wachstumsschübe noch vor sich. Seine Größe wird sich im Laufe des Lebens vervierfachen[11]. Zum Vergleich: Ein Schimpansengehirn wächst gerade einmal auf die doppelte Größe an. Dass Menschen ihren Nachwuchs so unreif gebären, hat wohl einen ganz praktischen Grund. Hätte das Gehirn des Kindes seine endgültige Größe schon vor der Geburt erreicht, würde der Kopf niemals durch das Becken der Gebärenden passen.
Dass wir Menschen auch im Verhältnis zu unserer Körpergröße so große Gehirne haben, vor allem eine sehr dicke und ausgedehnte Hirnrinde, liegt daran, dass Menschen ein äußerst »soziales Gehirn« haben, glaubt der bekannte Anthropologe Robin Dunbar. Einen Großteil unserer Hirnkapazitäten brauchen wir, um die vielen komplizierten sozialen Interaktionen zu managen, die unser Überleben sichern[12]: um den genervten Unterton des Kassierers an der Kasse herauszuhören, die drohende Körperhaltung der Chefin, die einen Bericht erwartet, zu erkennen und die richtigen Worte zu finden, um dem eigenen Sohn zu erklären, warum seine vermeintlich beste Freundin ihn nicht zum Kindergeburtstag eingeladen hat.
Dunbar betont, dass für den Menschen eine Art der sozialen Beziehung besonders wichtig ist: »intensive Formen der Paarbindungen«. Er dürfte damit enge Familienbande meinen, bedeutsame Freundschaften und von Liebe und Verständnis getragene Partnerschaften. Sich Menschen zugehörig fühlen zu wollen sei ein evolutionär geformtes Bedürfnis, schreiben auch die Evolutionspsychologen Roy Baumeister und Mark Leary[13]. Alles in uns Menschen, glauben sie, strebt darauf hin, eng in soziale Netze integriert zu sein. Kein Wunder also, dass es vielen Menschen in Pandemiezeiten so schwerfällt, Distanz zueinander zu halten.
Читать дальше