Noch ein letztes Hindernis — dann trat er durch das Tor der Verheissung.
Ein strahlender Morgen folgte dem in Schönheit gestorbenen Tage. Da machte sich Fritz auf den Weg zu Pastor Hinrichsen. Als er in das schlicht eingerichtete Studier- und Wohnzimmer des alten Mannes trat, der stets einen langen Bratenrock mit ganz unmöglichen Schössen trug, erblickte er vorerst nichts als einen urväterlichen Schrank mit Büchern und eine lange Pfeife.
Der Pastor ging seinem Besucher entgegen und empfing ihn voll Wärme und Freundlichkeit.
„Ich habe von Ihrem Schicksal gehört, Herr Rowaldt,“ begann er, den Jüngling ohne viel Umschweife auf einen der altmodischen, gepolsterten Sessel nötigend. „Wahrlich, Ihr Geschick hat meine volle Teilnahme gefunden! Wenn Sie sich mir anvertrauen wollen ...“
„Aber, Herr Pfarrer,“ unterbrach ihn Rowaldt lächelnd, „ich muss Ihnen doch mit grösster Dankbarkeit entgegenkommen, wenn Sie sich solche Mühe mit mir machen wollen!“
Der Pastor musterte ihn wohlwollend, sah eine Weile prüfend in das scharf geschnittene, offene Antlitz des Jünglings, lächelte dann vor sich hin und meinte:
„Es gehört ein ungewöhnliches Mass von Energie zu dem Entschluss, den Sie gefasst haben! Und noch mehr: wahre, aufrichtige Liebe zu den Wissenschaften.“
„Die hege ich,“ entgegnete der Jüngling einfach. Der Pastor nahm eine Prise aus der alten, mit Elfenbein verzierten Dose und sah nach der grossen Wanduhr:
„Es ist bereits halb neun, ich muss jetzt meine Kinderchen unterrichten. Wenn Sie um elf Uhr wiederkommen wollten, Herr Rowaldt, könnten wir gleich heute mit dein Studium beginnen.“
„Gut, Herr Pastor, ich bin völlig einverstanden.“
„Also — dann auf Wiedersehen. Übrigens ..“ Hinrichsen hielt den Jüngling, der schon an der Tür stand, fest, „haben Sie meine Tochter schon gesehen?“
„Nein, Herr Pastor.“
„Aber da muss ich gleich — nein, so eine Vergesslichkeit! — Hedi! Hedi!“ rief er in den Gang hinaus.
„Väterchen?“ klang es zurück.
„Komm einmal herein, mein Herzchen, binde aber Deine weisse Schürze um und stecke Dein Haar auf!“
Man hörte im Nebenzimmer ein paar Tassen klappern, dann einen leichten graziösen Schritt, und unter dem Türrahmen erschien Hedwig.
„Hier stelle ich Dir unseren neuen Hausfreund vor ... meinen Herrn Studiosus Fritz Rowaldt,“ sagte der Alte lächelnd und deutete auf den Gymnasiasten, der sich leicht verneigte. „Dies hier, Herr Rowaldt, ist Hedwig, die Tochter meiner verstorbenen Frau, die mein Hauswesen führt und mich auf meine alten Tage mit Leckereien traktiert.“
„Aber Vater!“ verwies sie ihn lächelnd, den Fremden mit einem flüchtigen Seitenblick streifend. Dann trat sie auf ihn zu, reichte ihm die schmale Hand und sagte leise:
„Seien Sie willkommen!“
„Ich danke, gnädiges Fräulein!“
Er wollte einige Worte hinzufügen, aber sie hatte ihm schon ihre Hand entzogen und war im Nebenzimmer verschwunden.
Mit einem Blick hatte er ihre Schönheit umfasst: schlanke Glieder, rehbraune Augen, die wohl etwas dunkler erschienen, als sie waren, und schweres, blondes Haar, beinahe brennend. Der pikante, helle Ton ihres Gesichtes, dem zartes Rot auf beiden Wangen gesunde Frische verlieh, ward durch die Spitzenkrause noch gehoben, während die grosse, weisse Schürze ihre Gestalt appetitlich und reizend umrahmte.
Als er die Tür öffnete, um ins Freie zu gelangen, steckte Hedwig ihr Köpfchen durch den Türspalt.
„Speist der Herr bei uns?“ fragte sie, während ihre vollen, kirschroten Lippen sich leicht öffneten.
„Natürlich, mein Herzchen,“ warf der Pastor ein, der sich eben den gefährlich aussehenden Zylinder aufs Haupt stülpte.
„Also, dann auf Wiedersehen,“ lächelte sie schalkhaft und verschwand.
Fritz ging die Landstrasse entlang. Die Höhen hatten sich in einen leichten Dunst gehüllt, der feiner als ein Brautschleier war und Weinberge und Burgruinen in bläulichen Nebel sinken liess. Er ging wie im Traume und dachte immerfort an das liebliche Mädchen.
Wieder tauchte vor ihm ihre schlanke Figur auf; er sah die wunderbaren, brennenden Flechten, die sie über dem Nacken zu einem schlanken Knoten geflochten hatte. Er musste an den schmalen, blendend weissen Hals und die feine, leidenschaftliche Linie um ihre Mundwinkel denken.
„Seltsam,“ dachte er und blieb tief aufatmend stehen. „Ist es nicht wie ein Wunder, diese keusche Mädchenblüte in dieser weltverlorenen Einsamkeit?“
Er hatte bisher keine Zeit gefunden, sich mit Frauen zu beschäftigen. Als er das Gymnasium verlassen, war er zu jung gewesen, um ähnlichen Gedanken nachzuhängen. In der Folgezeit hatte ihn der Ernst des Lebens ganz beansprucht.
Er lächelte mit leisem Spott über sich selbst, als er daran dachte, dass er doch bloss ein Gymnasiast war ... mit zwanzig Jahren allerdings, einer, der dem Milieu schon entwachsen war!
Um elf Uhr fand er sich wieder bei Pastor Hinrichsen ein. Der Alte sass bereits am Tisch.
„Ich denke, wir nehmen gleich Sophokles vor,“ begann er, ganz geschäftig, dabei gemütlich über die Brillengläser schielend.
Fritz vertiefte sich sogleich in den Unterricht. Aber jeden Moment ertappte er sich selbst, wie er das Auge nach der gegenüberliegenden Tür richtete, doch nur in der Hoffnung, Hedwig zu sehen.
Aber er hörte nur die Tassen klappern und ein leises Singen wie Vogelgezwitscher.
Indes verbreitete sich Pfarrer Hinrichsen über Inhalt und Bedeutung der Dramen, über Sophokles als Tragödiendichter überhaupt, über die Harmonie seiner Charaktere....
Pastor Hinrichsen hatte nichts von dem Schwung, den die Begeisterung verleiht. Er lehrte in einem schwerfälligen, dogmatischen Ton. Der Jüngling aber dachte an seinen Ordinarius, Professor Glaukner, dem sie alle, die Wissensdurstigen wie die Gleichgültigen, in derselben Liebe anhingen. Wie ganz anders wusste der über Sophokles zu reden!
Im Geiste des Primaners erstand das Bildnis des Sohnes des Sophillus, wie er, ein schöner, wohlgestalteter Jüngling, ausgezeichnet durch seltene Anmut der Bewegungen, durch klassische Mienen und ein stolzes, schönheitsfrohes Auge, durch die Strassen Athens schritt, zum Opfer ging oder die attischen Fluren auf schnaubendem Rosse durchstreifte.
Wie er bei Salamis unter den vordersten Schiffen gegen die persischen Räuberscharen gekämpft, wie er, als der Jubel des Sieges ganz Attika berauschte, den Reigentanz der Jünglinge angeführt. Wie er ein Meister in allen Künsten des Leibes war, ebenso wie ein begnadeter Jünger der Pallas Athene.
So hatte Professor Glaukner seinen Schülern Sophokles nahe gebracht, ehe er die Werke des Dichters heranzog, um die Kenntnisse der griechischen Sprachformen ihnen zu stählen.
Nicht jeder, ach, wenige besassen die Kunst, die Jugend und ihren Durst nach Schönheit, ihre Auffassungsgabe so zu verstehen, wie Ewald Glaukner, den seine Schüler ohne schlimme Absicht kurzweg „Die Eule“ nannten. Einmal, weil das Sinnbild Athens, glaux, die Eule, sie durch Anklingung des Namens Glaukner dazu verführte, dann aber, weil der Professor selbst an dieses Symbol der Gelehrsamkeit in jeder Weise erinnerte. Auf breiten Schultern sass ihm ein mächtiger Kopf mit scharf geschnittener Nase, schmalen Lippen und tief in ihre Höhlen zurückgefallenen Augen.
Über der hohen Stirn trug er das Haar wie Federn zurückgelegt, und so erinnerte sein Antlitz tatsächlich an das Sinnbild Athenes. Wenn aber seine Augen in Begeisterung glänzten, dann war es wiederum, als sähe man in einer Eule wechselnde Pupillen, die bald hell aufblickten in der Finsternis, bald dunkel und schwarz wurden vor dem störenden Licht des Tages.
Solcherlei Gedanken durchzuckten Fritz Rowaldt. Kein Wunder, dass er auf die Frage seines Lehrers zerstreute Antworten gab und seine Geduld auf eine harte Probe stellte. Pastor Hinrichsen verfügte eben nur über schematische Gelehrsamkeit. Fritz Rowaldt aber sah das Altertum mit anderen Augen, wollte es nur mit anderen Augen sehen, lebte ein Stück eigenes Leben in der Antike, von der Professor Glaukner einmal sagte:
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