Robert Heymann
Christines Weg durch die Hölle
Roman
Sir John Retcliffe dem Jüngeren
Saga
Christines Weg durch die Hölle
© 1929 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503683
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
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Der Sturm hat die Tür zum Wirtschaftsgebäude aufgerissen. Wie eine weisse Meute peitschte heulend der Schnee herein. Eine Mauer bildete sich drüben vor dem einsamen Eingang ins Schloss.
Gräfin Christine, längst ohne Dienstboten, ist beschäftigt, das magere Obst einzukochen. Man muss sich auf einen langen und harten Winter gefasst machen. Fleisch ist sehr selten geworden, denn die Bauern haben rücksichtslos den Wildbestand zusammengeschossen. Nichts geschieht mehr für die Wintersnot der Tiere. Nur die Wölfe dringen des Nachts rudelweise bis aus Schloss heran und müssen von Michael mit Flintenschüssen verfagt werden.
Christine will die Tür schliessen, denn die eisige Kälte dringt schon durch ihren Pelz, da löst sich ein dunkler Schatten aus dem Schleier von Schnee und Sturm.
Sie erkennt ihn sofort an dem nur ihm eigenen Lachen. An den schmalen Schultern erkennt sie ihn, an der Art, wie er nachlässig die Hand hebt.
„Alexeij!“ ruft sie entsetzt. „Alexeij Odojewskij!“
Das Gefäss mit Obst entfällt ihrer Hand. Sie schaut ihm entgeistert ins Gesicht, aus dem er die Eisperlen wischt. Er eilt auf sie zu, um ihre Wangen zu küssen, aber sie weicht schnell zurück. Sein Lachen, unecht, eine stete Maske, bleibt in seinem harten Gesicht stehen.
„Nicht anrühren, Hauptmann Odojewskij! Ich bin Gräfin Kusmetz.“
„So,“ sagt er trocken und wirft sich auf die Bank. „Das ist keine Neuigkeit für mich, Gräfin!“
Sie steht noch immer fassungslos.
„Wo kommen Sie her?“ fragt sie.
„Von überall und nirgends. Ich stehe natürlich bei den Weissen. Vorläufig bin ich in Odessa, nachdem ich lange unter Petljura gekämpft habe.“
Die Gegenwart ist brennend. Russland ist ein Flammenmeer. Tausend Jahre alte Einrichtungen sind fortgefegt. Die Menschen wandern und wandern ... Das drängend Gegenwärtige lässt Christine Vergangenes vergessen.
„Wir erhoffen alles von dem Eingreifen der Alliierten,“ sagt sie hastig. „Sie müssen uns retten. Sie sind stark genug! Russland zerfleischt sich selbst. Die Bolschewisten haben keine Armee ... Es sind undisziplinierte Horden ...“
Hauptmann Odojewskij zuckt die Achseln und vergräbt die Hände, von denen er die grossen Handschuhe gezogen hat, in den Taschen.
„Was weiss man ... und was wissen Sie, Gräfin? Kornilow fiel vor den Toren von Jekaterinodar ... am 31. März 18, im verflossenen Jahre ... ich habe den Eisfeldzug mitgemacht ... das Schlimmste, Fürchterlichste, was Sie sich denken können, Gräfin ...“
Der Erzähler bläst in den Ofen, aber Christine kann längst kein grosses Feuer mehr anzünden. Nur ein Flämmchen brennt am offenen Herd. Es ist eisig kalt, und die Winternebel senken sich mit früher Dunkelheit über die Erde.
„Die Bauern haben uns das Holz genommen. — Wir leben immer in Pelzen — Transportmittel gibt es auch nicht. — Kein Pferd mehr, keinen Wagen!“
„Und so leben Sie?“
Sie lächelt ergeben. Das kleine Feuerchen wirft einen matten Schein auf ihr junges, liebliches Gesicht. Sie hat dunkelblondes Haar, jetzt erscheint es rot. Ihr Kopf sitzt auf dem beweglichen Hals. Sie erinnert an eines jener ernsten Kinderbilder des englischen Meisters Reynolds.
„Dann leben Sie also mitten im Verfall?“
„Ja. Das ist das rechte Wort. Rund um uns zerfällt alles. Die Erde, die Ernte, die Häuser zerfallen. Die Steine fallen aus dem alten Schlossflügel in die Zugbrücke. Aber —“ wieder huscht das Kinderlächeln über ihr bleiches Gesicht — „wir warten. Wir haben ja die Hoffnung. Und der Frühling kommt, und der Sommer, wenn auch menschlicher Wahnwitz am liebsten die Erde stille stehen hiesse und die Sonne auslöschte!“
„Sie hoffen, Gräfin! —“ Der Hauptmann pfeift durch die Zähne ... „Bis sich Ihre Hoffnungen erfüllen, liegt Ihr Schloss in Trümmern, und Ihre Bauern haben Sie längst begraben.“
Er fährt, sich in Hitze redend, fort: „Worauf hoffen Sie? Auf den Sieg der Weissen? Die Weissen werden nicht siegen!“
Die erschreckten Augen der Gräfin leuchten durch das Dunkel.
„Aber Sie sind doch selbst — sagten Sie nicht, dass Sie Petljuraoffizier sind?“
„Ja. Ich war es. Und trotzdem! — Vorher war ich bei Kornilow. Ich kann Ihnen nicht schildern, was die Kornilow-Armee gelitten hat. Schliesslich hielten nur noch die Tekintzen, die mongolische Leibwache, die Freiwilligen zusammen! Die Roten trieben uns aus Rostow in die Steppe ... immer südwärts in Schnee und Eis ...“
Christine steht mit gefalteten Händen. Was sich einmal zwischen ihr und dem ehemaligen Zarenoffizier zugetragen hat, ist vergessen! Er hat Kornilows Eisfeldzug mitgemacht! Er wächst vor ihren Augen ins Legendäre.
„Erzählen Sie, Hauptmann Odojewskij! Erzählen Sie!“ bittet sie. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Verzeihen Sie, dass ich völlig vergass —“ sie schaut mit unruhigen Augen umher in dem kahlen Raume und hält im Geiste Musterung über ihre kargen Vorräte.
„Einige geschmorte Pflaumen — etwas Zuckerwasser?“ Sie senkt die Stimme bei dem Wort „Zucker“.
In seinem gesunden Gesicht öffnet sich der Mund weit zu einem Lachen.
„Zuckerwasser? Ja?“ Er lacht noch stärker. „Wir trinken französischen Champagner in Odessa, schöne Gräfin! Nein, wirklich, ich will Sie nicht berauben! Aber ich darf Ihnen eine Zigarette geben?“
Während ihr Kopf verneint, sucht die Hand die Dose aus edlem Holz, die er ihr entgegenhält. Er reicht ihr Feuer. Sie tut den ersten Zug.
„Ach,“ sagt sie in einem Ton, wie Kinder unter dem Weihnachtsbaum.
Er trinkt sich nicht satt an der sanften Rundung ihres Mundes, an den jungen, zärtlichen Augen, die bei jedem Zug, den sie an der Zigarette tut, für Sekunden in rotes Licht getaucht sind.
„Ich wollte Ihnen von Kornilow erzählen.“ Er schliesst schnell die Tür und kehrt zurück, setzt sich auf die Bank, während Christine mitten im Raume steht. —
„Immer enger wurde die Umklammerung der Roten. Es ging noch so, als wir durch das Gebiet der Donkosaken marschierten — obgleich auch die Kosaken damals noch nichts von uns wissen wollten. Inzwischen sind sie ja alle längst unter Denekin gegen die Roten mobilisiert. Aber erst, als die Eiswüste uns umfing, als wir Bauerndorf um Bauerndorf mit der Waffe in der Hand nehmen mussten, ohne Proviant, verzweifelt, halb erfroren ... da erst kam uns das ganze Elend zu Bewusstsein. Die Roten sandten ihre Späher vor uns her. Die logen die Bauern an, hetzten sie gegen uns auf, und wo uns etwa die Bauern nicht Widerstand leisten wollten, da waren schnell ein paar bolschewistische Helfershelfer gefunden, die diesen Widerstand erzwangen. Auch die deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen wurden von den Roten bewaffnet. Wenn wir ankamen, wurden wir mit Feuer empfangen. Dorf für Dorf, Gräfin, es war ein Jammer! Wir konnten die Waffen keine Stunde ablegen. Hinter uns die Roten, vor uns die Bauern. Es gab keine Wahl! Wir stürmten Dorf um Dorf und massakrierten die Verteidiger. Und fanden immer weniger Lebensmittel. So erreichten wir Jekaterinodar. Kornilow beschliesst, die Stadt zu stürmen. Wir sind kaum ein paar tausend Mann und haben einen unabsehbaren Zug von Verwundeten und Kranken, die wir mitschleppen. Ein Elend! Ein Kampf entbrennt, unbeschreiblich! Wir haben schreckliche Verluste. Kornilow beugt sich eben über seine Generalstabskarte, da schlägt eine Granate ein und zerschlägt ihm Arm und Bein.
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