Natürlich waren unsere Eltern nicht die Einzigen, die sich wegen unseres neuen Umfelds Sorgen machten. Die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten hatten kein gutes Bild von der Nation of Islam und standen allen, die mit dieser Organisation sympathisierten, sehr skeptisch gegenüber. Selbst unter Farbigen gab es viele, die sich von dieser Bewegung distanzierten. Anfangs merkte keiner, dass wir immer mehr dazu tendierten, Muslime zu werden, denn Muhammad und ich hatten beschlossen, unsere Absicht fürs Erste einmal für uns zu behalten – es war also unser dunkles Geheimnis. Wir waren uns einig, dass wir unseren Übertritt zum muslimischen Glauben dann bekannt geben würden, wenn die Zeit richtig dafür war. Doch vorerst mussten wir aufgrund der Neugier der größtenteils weißen Presse vorsichtig damit umgehen, und auch wegen einiger Leute in unserem engeren Umfeld, die etwas durchsickern hätten lassen können. Wir wussten, dass, wenn wir uns gleich zu erkennen geben würden, die Boxverbände, die öffentliche Meinung und sogar die US-Regierung Muhammad auf seinem Weg zur Boxweltmeisterschaft Probleme bereitet hätten. Muhammad, so entschieden wir, sollte seine Zugehörigkeit so lange geheim halten, bis er den so begehrten Schwergewichtstitel in seinen Händen hielt. Er musste, wie er es selbst ausdrückte, so klug wie eine Schlange, aber arglos wie eine Taube sein.
Je länger dieses Versteckspiel dauerte, umso mehr wurde einigen Personen in unserem engsten Umfeld die Verbindung Muhammads zu den Black Muslims, wie die Organisation auch genannt wurde, bewusst. Als er dann eine Bilanz von 19 Siegen und keine Niederlage sowie 15 Knockouts aufwies, bekam Muhammad die Chance, den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Sonny Liston zu fordern – ein Kampf, den er, wie er selbst wusste, viel ernster nehmen musste als alle seine bisherigen Begegnungen. Drei Monate vor dem Kampf gegen Liston verbrachten Muhammad und ich Weihnachten in Angelos Haus, während die Familie im Garten hinter dem Haus feierte. Damals war Integration eher unbekannt, und mein Bruder war auch noch nicht berühmt. Wenn er also die Dundees besuchte, öffneten sie die Tür und lachten darüber mit den Nachbarn, die es seltsam fanden, dass da nebenan ein junger schwarzer Mann zu Besuch kam. Später, als Muhammad immer stärker im Rampenlicht der Medien stand, kamen auch die Nachbarn gerne hinüber, um ihn zu sehen, wenn er bei der Familie Dundee vorbeikam. Damals aber trauten sie ihren Augen nicht, wenn zwei junge Farbige in einer Gegend, in der nur Weiße lebten, an die Tür klopften.
Wie auch immer, an diesem besagten Tag gesellten sich Muhammad und ich zu den Dundees, als sie gerade ihre Geschenke auspackten. Da Muhammad unsere Familie in Louisville vermisste, war Angelos Familie eine Art Ersatz für ihn, und er genoss es vor allem, mit Angelos jüngstem Sohn Jimmy zu spielen, mit dem er über die Jahre ziemlich viel Zeit verbracht hatte. Muhammad war recht still, als wir mit den Dundees am Tisch saßen und aßen, und sog die Familienatmosphäre in sich auf, doch als Jimmy dann mit zwei Walkie-Talkies, die er als Geschenk erhalten hatte, zu spielen begann, kam Muhammads spielerische, energiegeladene Seite zum Vorschein. Der kleine Jimmy rannte in der Wohnung herum und schrie in sein Walkie-Talkie: „Cassius! Cassius! Wo bist du?“
Und Muhammad antwortete: „Es gibt hier keinen Cassius, nur einen Muhammad Ali.“
Das verdutzte Kind rief: „Ich kenne keinen Muhammad Ali!“
Nun, Angelo wusste über die Verbindungen Muhammads mit der Nation of Islam Bescheid, auch wenn er sich sonst kaum mit den politischen Ansichten meines Bruders beschäftigte. Angelo – einer der wenigen, dem Muhammad vertrauen konnte – war darum bemüht, die ganze Sache geheim zu halten, da er befürchtete, dass die Boxing Commission den Kampf absagen würde, wenn sie davon Wind bekäme, dass sein Boxer einer von vielen geschmähten religiösen Gruppierung beigetreten war. Damit wäre der Traum vom Schwergewichtsweltmeister gefährdet gewesen, und Angelo wollte unbedingt, dass Muhammad zum Weltmeister im Schwergewicht gekrönt würde – das war das ultimative Ziel.
Etwas anderes, das weitgehend unbekannt ist, ist die Tatsache, dass mein Bruder erst Cassius X war – das war der Name, den er von Elijah Muhammad zuerst bekommen hatte. Danach gab er ihm den Namen Muhammad Ali, gerade noch rechtzeitig, um ihn direkt nach dem Sieg gegen Liston zu verkünden. Muhammad, so wurde uns gesagt, bedeutet so viel wie „der Gelobte“ oder „der Lobenswerte“ und Ali „der Hohe“, „der Erhabene“. Muhammad hatte seinen Namen über das Telefon erfahren, erst dann besuchte er Elijah Muhammad in dessen Haus und ging zu ihm in den oberen Stock. Der große geistige Anführer sagte zu Muhammad: „Ich habe die Bedeutung dafür.“
Dann kam er herunter und offenbarte uns die Bedeutung. Gleichzeitig erhielt auch ich meinen Namen, Rahaman Ali – was so viel wie „der Gnädige“ bedeutet.
Als wir der Nation of Islam beitraten, übernahmen wir auch die Lehren des Anführers, des ehrwürdigen Elijah Muhammad, der in weiterer Folge einen so starken Einfluss auf meinen Bruder haben sollte. Diese Lehren, denen Muhammad gleich zu Anfang ausgesetzt war, schienen genau richtig für ihn zu sein, passender als alles andere, was er davor gelernt hatte. Muhammad beschloss, seine Gefühle in etwas Tieferes zu kanalisieren, etwas, das er als eine starke Macht in seinem Leben wähnte, denn von da an sah er die Nation of Islam nicht mehr nur als religiöse Organisation, er begann nun auch damit, ihre tieferen Lehren anzunehmen.
Die Mitgliedschaft bei der NOI hatte auch andere Auswirkungen auf das Leben meines Bruders. Als Muhammad Mitglied wurde, verbrachte er viel Zeit mit Elijah Muhammad, geriet aber auch in den Bann eines der neun Kinder des Anführers. Jabir Herbert Muhammad war ein ergebener Muslim, aber auch ein Geschäftsmann, der ein Fotoatelier in der 79th Straße in Chicago sowie die offizielle Zeitung der Nation of Islam, Muhammad Speaks , betrieb. Erst nach dem Kampf gegen Liston traf mein Bruder auf Herbert und freundete sich mit ihm an. Muhammad fragte seinen spirituellen Führer, ob sein Sohn mit ihm zusammenarbeiten und ihm beim Management seiner Boxkarriere helfen könnte. Herberts Vater war sofort damit einverstanden und markierte damit den Beginn einer langen Beziehung, von der Herbert genauso profitierte, wie es die Nation of Islam tat. Zu dieser Zeit wurde Muhammad noch von der Louisville Group gemanagt und hatte einen Zehnjahresvertrag, weshalb Herbert bis 1966 warten musste, um meinen Bruder in seine Fänge zu bekommen, doch er nutzte jede Gelegenheit, um seinen Einfluss auf ihn zu vergrößern. Muhammad und ich erkannten dies damals allerdings noch nicht. Wir waren der Meinung, dass unser Verhältnis auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen basierte.
Elijah Muhammad wiederum machte sich nichts aus Sport und anderen Spielereien, sein Interesse und Ziel lagen darin, es Farbigen zu ermöglichen, in einem vom weißen Mann bestimmten „weißen Amerika“ zu leben. Er freute sich über jedes Mittel, mit dem er seine Idee transportieren konnte, und als laute, charismatische Berühmtheit war mein Bruder ein ideales Medium. So betrachtet stimmt es schon, dass er Muhammad ausnutzte, doch in gewisser Weise funktionierte dies in beide Richtungen. Als Muhammad eine persönliche und berufliche Verbindung zu Herbert aufbaute, hatte mein Bruder durch ihn auch Zugang zum Anführer der Nation of Islam.
Während Nebensachen wie Religion eine wichtige Rolle in Muhammads Leben spielten, arbeitete er weiter daran, zum König der Schwergewichtsklasse zu werden – und an einer besseren Zukunft. Außerdem hatte er weiterhin Zeit für seine Freunde. Einen Tag vor dem Kampf gegen Liston, der am 25. Februar 1964 angesetzt war, besuchten Muhammad und ich den damals erst zehn Jahre alten Jimmy Dundee im Krankenhaus, wo er sich einer Leistenbruchoperation unterziehen musste und somit nicht zum Kampf kommen konnte. Jimmy hatte, seit er fünf war, jeden Kampf von Muhammad live gesehen und war nun verständlicherweise traurig darüber, dass er es diesmal nicht schaffte. Zufälligerweise war die Kinderabteilung des Spitals damals so voll, dass das Personal Jimmy gefragt hatte, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn er in der „Negerabteilung“ untergebracht werden würde. „Warum sollte mir das etwas ausmachen?“, fragte er irritiert.
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