Ich habe Angst vor dem Zeitpunkt, wenn das Geplapper aufhört. Wenn sich Fanni von uns zurückzieht, über ihre wichtigsten Gedanken nur noch mit ihren Freundinnen redet, ihre Zimmertür mit Schlüssel und Drohungen zusperrt. Wie schrecklich kurze Zeit sie so klein ist wie jetzt!
Hier aber gibt es nur uns. Diese Welt hat Grenzen. Hier das Land, dort das Meer. Niemand kommt ohne Erlaubnis und unbemerkt an diesen Ort. In der Ferne tuckert ein Motorboot, ich starre es eine Weile an. Es fährt vorbei, verschwindet zwischen den Inseln. Dann ist es wieder still.
Unsere Runden nennen wir Müllspaziergänge. Wir sammeln den Müll, der angeschwemmt worden ist, untersuchen Plastikstücke und überlegen, woher sie wohl kommen, wem sie gehört haben und warum sie ins Meer geraten sind. Oft gibt es überhaupt keinen Müll, aber bei starkem Wind kann man vor allem am Südufer alles Mögliche finden. Einmal ist ein kleiner Apparat aus Metall angetrieben worden, den Fanni zum Spielen mitgenommen hat. Gemeinsam mit Joel hat sie ein Spielfunkgerät daraus gebaut, mit dem sie Seenot spielt und den Schiffen Kommandos gibt. Sie hat noch immer weniger Ansprüche als die Kinder meiner Bekannten und ist deshalb ein Kind, das gut zu uns passt. Joel bastelt mit ihr neue Spielsachen aus aufgelesenen Plastikteilen und Schrott, und die seltsamen Konstruktionen sind für Fanni kostbarere Schätze als Mitbringsel von Reisen.
Fanni und ich kennen jeden Felsspalt am Ufer. Noch ist das Wasser klar, man sieht mehrere Meter tief bis auf den Grund. Fanni fragt besorgt, wann die Blaualgen kommen, ob es genau dann passiert, wenn das Wasser endlich schön warm ist.
Die sonnige und windfreie Periode geht langsam in Hitze über. Das Meer ist spiegelglatt, dicht am Ufer treibt eine Vogelfeder. Hier auf der Insel ist es selten so windstill, und wenn es so ist, muss man es genießen, habe ich gelernt.
Normalerweise sonne ich mich nie, schon gar nicht, nachdem Joels Mutter an Hautkrebs gestorben ist. Aber jetzt beschließe ich, eine Ausnahme zu machen, das Hitzewetter zwingt einen geradezu, sich auszuziehen und im Bikini auf den Steg zu legen, so wie ich es immer tat, als ich noch jünger war. Ich pfeife auf den Krebs, denke ich beinahe heiter, als ich meine schneeweißen Beine und Arme mit einer Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50 einreibe.
Ich bitte Fanni, mir den Rücken einzucremen. Sie verteilt die Creme energisch und sorgfältig, danach stellt sie sich erwartungsvoll vor mich hin. Zuerst verstehe ich nicht, warum.
Sie sieht mich über die Schulter hinweg an: »Jetzt bist du dran, creme mir den Rücken ein«, sagt sie.
Es schneidet mir ins Herz, und ich creme sie rasch ein. Dabei frage ich mich, wie lange es noch dauert, bis Fanni versteht, dass sie keine Sonnencreme braucht, im Gegensatz zu ihrer schneeweißen, blonden Mutter, dass sie sich nicht wegen Hautkrebsgenen in der Familie Sorgen machen muss, dass sie in dieser Hinsicht im Vorteil ist und wahrscheinlich besser auf der Welt zurechtkommt als ihre rot pigmentierten Verwandten. Dennoch beschließe ich, sie so lange sorgfältig einzureiben, wie sie es will.
Auf der Insel gibt es keinen anständigen Spiegel, denn Joels Mutter ist so gut wie nie hier gewesen. Sie verbrachte ihre Sommer mit Auftritten in Tanzlokalen oder im Ausland, Joel war immer allein mit seinem Vater auf der Insel. Das sieht man der Einrichtung des Häuschens immer noch an, wir haben nur wenige Änderungen vorgenommen. Ein- oder zweimal im Sommer kam die Mutter angeblich zu Besuch, saß in ihren wallenden bunten Kaftanen seufzend auf der Terrasse und kippte Drinks gegen die Langeweile. Dann erklärte sie, die Abgeschiedenheit und Primitivität der Insel deprimiere sie, und machte sich wieder davon, zurück in die Stadt. So hat Joel es mir erzählt. Angeblich hatte sie Angst vor dem Meer und vertrug das kalte, feuchte Wetter nicht. Joel ist überzeugt, seine Mutter habe jeden Sommer eine Urlaubsromanze gehabt, die sie von der Insel ferngehalten habe.
In vielen Sommern habe ich darüber nachgedacht, einen Spiegel zu kaufen, es am Ende aber bleiben lassen. Ich weiß, dass ich auch dieses Jahr zu viel Sonne abbekommen werde, obwohl ich ständig im Schatten sitze, und mein sommersprossiges Gesicht deshalb voller Leberflecken sein wird, wie eine Karte mit all den Ländern, die ich bereist habe. Manchmal macht sich Fanni einen Spaß daraus, mit dem Finger die Ränder meiner Flecken nachzuziehen und zu untersuchen, welcher welches Land bildet. Kenia findet sich in meinem Gesicht immer. Es ist besser, wenn ich mir die vom Sommer verursachte Veränderung nicht anschaue, außerdem erkenne ich mich sowieso nicht mehr, wegen der durch die Narbe erforderlichen neuen Frisur. Es ist besser, wenn ich mich von meinem Gesicht fernhalte.
Joel kommt in Badehose auf den Steg, ausnahmsweise guter Dinge.
»Na, was treibt ihr hier so?«, fragt er.
»Wir cremen uns mit Sonnenmilch ein«, sage ich schnell und werfe Joel einen vorsichtigen Blick zu. Er sieht aus, als wollte er etwas sagen, hält aber den Mund.
»Sonnencreme ist sehr wichtig«, erklärt Fanni. »Hast du auch schon welche?«
»Noch nicht, würdest du mich eincremen?«, fragt Joel, und Fanni lässt ihm Creme auf den Rücken tropfen, der voller obskurer Muttermale und Knubbel ist, die er nie untersuchen lassen will.
Ich schaue ihn unter meinem Sonnenhut an, denke, was für einen schönen Tag wir haben, wie sehr ich diese beiden liebe, aber ich gewinne meine gute Laune nicht mehr ganz zurück, es kommt mir vor, als schwebte am wolkenlosen Himmel eine einzelne schwarze Wolke, klein zwar, aber eine, aus der ein heftiger Regen kommen kann.
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