INA WESTMAN
HEUTE BEISSEN DIE FISCHE NICHT
Aus dem Finnischen
von Stefan Moster
Die Originalausgabe erschien 2018
unter dem Titel Henkien saari bei Kosmos, Helsinki.
Copyright © Ina Westman / Kosmos 2018
Das Jansson-Zitat auf Seite 7 »Wann stirbst du?«, fragte das Kind. Und die Großmutter antwortete: »Bald. Das geht dich aber überhaupt nichts an.« »Warum nicht?«, fragte das Enkelkind. Die Großmutter antwortete nicht, ging auf den Felsen hinaus und weiter zur Schlucht hinüber. »Das ist doch verboten!«, schrie Sophia. »Ich weiß«, antwortete die alte Frau verächtlich. »Du und ich, wir beide dürfen nicht zur Schlucht gehen, aber jetzt tun wir es trotzdem, dein Papa schläft nämlich und wird nichts davon erfahren.« Tove Jansson, Das Sommerbuch
folgt der Ausgabe:
Tove Jansson, Das Sommerbuch .
Aus dem Finnischen von Birgitta Kicherer.
Copyright der deutschen Übersetzung
© Bastei Lübbe AG Köln, 2014.
© 2021 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Coverabbildung Ulyana Glazova / shutterstock.com
Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-390-3
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-645-4
www.mare.de
Für Jukko
»Wann stirbst du?«, fragte das Kind.
Und die Großmutter antwortete: »Bald. Das geht
dich aber überhaupt nichts an.«
»Warum nicht?«, fragte das Enkelkind.
Die Großmutter antwortete nicht, ging auf den
Felsen hinaus und weiter zur Schlucht hinüber.
»Das ist doch verboten!«, schrie Sophia.
»Ich weiß«, antwortete die alte Frau verächtlich.
»Du und ich, wir beide dürfen nicht zur Schlucht
gehen, aber jetzt tun wir es trotzdem, dein Papa
schläft nämlich und wird nichts davon erfahren.«
Tove Jansson, Das Sommerbuch
I I
II
III
Dank
I
Das Boot kommt aus dem Nebel. Plötzlich gleitet es hinter uns als dunkle Gestalt im Grau. Genau deswegen hat mich Joel nach draußen kommandiert, damit ich nach anderen Booten Ausschau halte, denn auch wir sollten eigentlich nicht hier sein.
Das Wetter hat uns überrascht, wie so oft in den Schären. Beim Einkaufen schien noch die Sonne, und wir glaubten dem Ladeninhaber Börje nicht, der vor den Wetteraussichten mit außergewöhnlich dichtem Seenebel warnte. Wir sind Stadtbewohner, auch Joel, obwohl er das manchmal zu vergessen scheint. Das Boot hat einen Kartenplotter und ein Radar, aber Joel verlässt sich nicht gern allein auf die Geräte, schon gar nicht, wenn wir Fanni dabeihaben. Wegen Fanni geben wir uns ruhig und lassen sie auf dem iPad Spiele spielen, die normalerweise verboten sind. Sie ist völlig zufrieden und merkt nicht, wie gereizt wir uns gegenseitig anfahren.
Trotz des Radars hat Joel das Boot offenbar nicht gesehen, denn er blickt von der Kabine aus nur nach vorn. Ich gestikuliere an Deck und rufe zu dem Boot hinüber, denn es kommt zu dicht an uns heran, aber an Bord ist niemand zu sehen.
Als ich den Blick schließlich aufs Wasser richte, schreie ich. Um uns herum treiben leere orange Rettungswesten. Es sind mindestens fünf, ich versuche zu erkennen, ob sich unter der Wasseroberfläche irgendwo eine Hand reckt. Aber bei dem Nebel ist das Wasser still und glatt, abgesehen von den leichten Heckwellen unseres Bootes.
Lautlos treibt das andere Boot auf uns zu, es hat uns schon fast erreicht. Es will mit uns kollidieren. Ohne Passagiere.
Ich stehe an Deck und stoße einen Schrei aus, der die Erinnerung an etwas weit Entferntes weckt. Ich schließe die Augen und schreie, die Panik will mir den Atem rauben, und ich spüre, dass mich allein das Schreien am Leben hält. Joel stoppt den Motor und stürzt aus der Kabine. Er nimmt mich beruhigend in den Arm und versucht zu erspähen, was ich da anbrülle. Ich kann nicht aufhören. Wenn ich schreie, bleibe ich am Leben.
Fanni kommt an die Kabinentür, aber Joel befiehlt ihr mit seiner strengen Lehrerstimme, wieder hineinzugehen.
Als ich in Joels Armen endlich aufhöre zu schreien, ist das Boot nicht mehr da. Es ist dorthin verschwunden, wo es herkam, und ich kenne diesen Ort nicht.
Joel sagt, ich hätte geträumt, alles sei gut. Mama hat nur ein bisschen Kopfweh, erklärt er Fanni, die nickt und sich wieder in ihr iPad vertieft.
Ich sitze in der Kabine und starre nach draußen, versuche, den Himmel zu erkennen, aber im Nebel sieht man nichts. Hier ist niemand, hier sind nur wir und unser Boot, auf dem Weg zurück zur Insel.
Ich habe einen Reißverschluss am Kopf. Er zieht sich in einer gekrümmten Linie über die rechte Seite des Schädels, in der Mitte macht er eine kleine Kurve. Auf der Wunde wachsen keine Haare. Immer wenn ich ihn vergessen will, kämme ich meine Haare darüber. Fanni streichelt ihn und fragt, ob man ihn aufmachen kann. Wir reden darüber, was darunter ist, schauen uns in Büchern Bilder des Gehirns an, reden über Nerven und über das Gedächtnis, darüber, woraus der Mensch als denkendes Wesen entsteht.
»Warum hast du den Reißverschluss?«, fragt Fanni, und ich antworte fast wahrheitsgemäß: »Ich weiß es nicht.«
Es ist die einfachste Antwort an eine Fünfjährige.
Ich lüge. Es ist die einfachste Antwort an mich.
Da ist etwas Unangenehmes. Etwas, weshalb mein Gedächtnis aussetzt, die Gedanken umherirren, der Kopf wehtut. Ich erinnere mich besser an die Vergangenheit als an den gegenwärtigen Moment. Und wenn es doch ein Tumor ist, sage ich einmal zu Joel, an einem der Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass in meinem Gehirn etwas wächst und drückt, meiner Persönlichkeit Raum nimmt. Es ist kein Tumor, erwidert er, und ich weiß nicht, ob er lügt. Wir haben ausgemacht, dass auch er lügen darf. Ohne Erlaubnis kann er es nicht, so ist er, solche Menschen sind selten geworden, und ich muss ihn deswegen lieben, oder trotzdem.
An schlechten Tagen frage ich ihn, ob ich sterbe, und er antwortet, »du stirbst nicht«, schaut aber weg.
Der Reißverschluss ist ein Ratespiel von uns geworden, aber Joel hat es allmählich satt. Lange hat er sich einfach nur Sorgen gemacht, aber vielleicht ist die schlimmste Gefahr vorbei, denn inzwischen liegt Überdruss in seiner Stimme. Ich stelle ihm nur noch selten Fragen.
Der Reißverschluss ist aber nicht das einzige Rätsel. Es gibt in meinem Kopf noch ein zweites, eines, über das ich nicht einmal mit Joel rede. Da war ein Flughafen, irgendwo, auf dem ich nicht sein sollte. Dessen bin ich mir fast sicher. Ich habe das Bild so klar vor Augen, als hätte ich es im Kino gesehen: Ich stehe auf einem großen internationalen Flughafen und fühle mich schuldig. Es ist mir immer leichtgefallen, wegzufahren, aber diesmal nicht. Ich hätte dort nicht sein dürfen, aber ich kenne den Grund dafür nicht und weiß auch nicht, wie es von dort aus weiterging.
Womöglich wohnt unter meinem Reißverschluss der Tod. Womöglich werde ich an etwas ganz anderem sterben. Ich bin zweiundvierzig und überhaupt nicht zum Sterben bereit.
Hier auf der Insel ist der Tod weit weg, und für eine kurze Zeit schafft das Erleichterung.
Joel nahm mich zum ersten Mal im Oktober mit auf die Insel, als wir uns einen Monat kannten. Für ihn war es ein toller Herbstausflug, ich fand es entsetzlich. Ich war noch nie Boot gefahren und nie auf dem Meer gewesen, in meiner Familie hatten wir nicht einmal Zeit für Urlaub gehabt. Einmal im Sommer fuhren wir zu Omas Ferienhaus im Seengebiet, und das war etwas völlig anderes als das hier: dieses eisige graue Meer am früh anbrechenden Abend.
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