Am 12. Juni rief einer meiner Brüder an. »Du kommst heute abend im Fernsehen. Von jetzt ab wird offiziell nach dir gefahndet.« Am selben Tag rief Volmer Pedersen von der Mordkommission meinen Vater an und fragte, ob er mich nicht überreden könnte, mich zu stellen. Sonst würde ich nämlich in allen trauten Heimen Dänemarks zu sehen sein. Mein Vater wußte nicht, wo ich mich aufhielt, und ich hatte durchaus vor, mich erst dann zu stellen, wenn mir das paßte. Also machte ich es mir vor der Glotze gemütlich.
Der Sommer mußte genossen werden, und in einer kleinen Wohnung in Nørrebro war das nicht möglich. Da ich nun steckbrieflich gesucht wurde, brauchte ich Luftveränderung dringender denn je. Wir mieteten für zehn Wochen ein Ferienhaus. Alles wurde telefonisch abgesprochen, und das Ehepaar, dem das Haus gehörte, bekam uns nicht zu sehen. Mein Versteck lag in einer großen Ferienhauskolonie, wo es von fremden Gästen wimmelte, vor allem von Deutschen. Das erhöhte meine Sicherheit und kam mir wie gerufen. Die ersten beiden Tage im neuen Schlupfwinkel verbrachte ich zusammen mit einem Bruder. Zusammen erkundeten wir die Gegend. Fanden den Strand, die lokalen Läden und die Fluchtwege, die ich kennen sollte, für den Fall, daß mein Film riß.
Als mein Bruder das Ferienhaus verließ, kehrten Langeweile und Einsamkeit, die ich aus der letzten Wohnung kannte, zurück. Aber ich konnte hier draußen in der Natur besser damit umgehen. Es war schwer zu beschreiben. Es kam mir fast vor wie ein leeres Gefühl im Bauch, und ich schien ein Stück neben mir zu gehen. Es hatte nichts mit dem Mord an sich zu tun, denn schon zu diesem Zeitpunkt dachte ich nur noch selten daran. Das Gefühl verschwand, wenn ich Gesellschaft hatte, stellte sich dann aber wieder ein, sowie ich allein war. Entweder mußte ich damit leben oder ich mußte etwas dagegen unternehmen. Ich fing an, lange Spaziergänge durch die Umgebung zu machen, was mir sehr gut ins Programm paßte. Der Strand war ein ziemliches Stück vom Haus entfernt, und es war Badewetter. Die Einkaufstouren in den lokalen Supermarkt erforderten ebenfalls ihre Zeit, und bald bemerkte ich eine leichte Verbesserung. Ich hatte Fernsehen, und – glücklicherweise – der dänische Fußball hatte einen Höhepunkt erreicht; es war ein Genuß, der Mannschaft bei der EM in Frankreich zuzusehen. Und noch besser: Auf dem Bildschirm tauchte George Christie von den Hells Angels Ventura auf. Barfuß, mit der Fackel in der Hand und unterwegs zu den Olympischen Spielen nach Los Angeles. Die Brüder in Kalifornien hatten die Spiele gesponsert und durften deshalb einen Kilometer das olympische Feuer tragen.
Im Haus fand ich ein Tonbandgerät und eine Woche darauf wurde mir ein Stapel meiner Lieblingsbänder zugeschickt. Ich arbeitete nun auch an meiner Form. Zuerst wuselte ich nur aufs Geratewohl durch die Gegend, aber bald lief ich jeden Tag am Strand. Carlo brachte eine Gewichtstange und einige Bleiplatten. Das führte zu einem allmorgendlichen Work-out. In der Garage gab es ein Rad und einen Rasenmäher, und mit ersterem machte ich mich auf den Weg, um im Ort einen Kanister Benzin zu erstehen.
Jedes Wochenende kam Helle zu Besuch. Das war der Höhepunkt der Woche, und die Zeit verflog nur so, wenn sie da war. Anfangs machte es sie nervös, einfach so mit mir durch die Gegend zu laufen, aber nach dem zweiten Besuch ging sie alles gelassener an. Wir lernten einander besser kennen und genossen die Ferienhausidylle. Wir waren zu dieser Zeit viel am Strand und hatte einige feine Senken gefunden, wo wir uns sonnen und in aller Ruhe allerlei Schabernack treiben konnten. Wenn wir uns am eigentlichen Strand aufhielten, zwischen anderen Menschen, versteckte ich meine Tattoos unter einem Hemd. Das Leben wurde so normal, daß Helle mich eines Tages rief. Wir hatten uns am Strand ein wenig gerauft. Helle lief heulend am Wasser entlang, dicht verfolgt von mir, und ich hielt eine dicke Qualle in der Hand. »Das ist eine Feuerqualle«, rief ich, und gerade, als sie eine Gruppe von Badenden erreichte, die uns lachend beobachtet hatten, rief sie: »Neeeihein, Jönke!« Und klatsch, die Qualle hatte sie getroffen. Das brachte alle zum Lachen, und niemand hatte mitbekommen, was Helle da gerufen hatte.
Daß ich schwer zu erkennen war, wurde mir mehrmals bewiesen. Als erstes lief ich im lokalen Supermarkt Mogens Kløvedal und seiner Freundin in die Arme. Obwohl wir uns fast gegenüber standen und uns erst zwei Wochen vor dem Mord begegnet waren, erkannte er mich nicht. Und zwei Tage darauf stieß ich auf meinen alten Schulkameraden Ole Jacobsen. Es wurde fast zum Sport, und ich umkreiste ihn, um mein Schicksal herauszufordern. Ich nahm allerdings keinen Blickkontakt auf. Auch er erkannte mich nicht – nicht einmal, als ich ihn anstieß und »Verzeihung« sagte. Ich hätte mich eigentlich gern zu erkennen gegeben. Ole war ein lustiger Bursche und wir hätten sicher in unseren Ferien viel Spaß zusammen haben können.
Langsam gewöhnte ich mich an die Vorstellung von sechzehn Jahren im Gefängnis. Es war keine lustige Aussicht, aber andererseits war mir der Tarif ja bekannt gewesen, als ich geschossen hatte. Die Brüder kamen zu Besuch und alles, was sie erzählen konnten, stellte klar, daß ein Freispruch die pure Utopie wäre. Sie erzählten, daß Ellis, ein früheres Mitglied, tot war. Er war ein erfahrener Fallschirmspringer gewesen und hatte in Paris an irgendeinem Schauspringen im Zusammenhang mit der Fußball-EM teilgenommen. Bei einem Gruppenspringen hatte er sich im Schirm eines anderen Springers verfangen. Er hatte seinen eigenen Schirm gekappt, und der Kollege hatte überlebt. Aber Ellis’ Reserveschirm hatte sich nicht geöffnet, und Ellis war auf dem Boden zerschellt.
Der Krieg mit den Kuhfladen wurde zu diesem Zeitpunkt nur in der Presse ausgefochten. Seltsamerweise verdammten die Medien uns als zynische Mörder und abgestumpfte Gewaltverbrecher, zugleich aber geilten sie sich an uns auf. Jetzt muß Bullshit bald zuschlagen und In diesen Kreisen ist Rache eine Notwendigkeit, sonst macht man sich zum Spott und kann sein Patch auch gleich wegwerfen , schrieben sie.
Obwohl ich mein Leben im Griff hatte, kamen noch immer diese Phasen der Langeweile. Damit jedoch war dann abrupt Schluß, als ein guter Freund zu Besuch kam. »Warum schreibst du kein Buch?« fragte er. Tja, warum eigentlich nicht? Wir diskutierten darüber, dann wechselten wir auf andere Themen über. Mein Freund begriff nicht, daß die Polizei sich keine größere Mühe gab, mich zu fangen. Man konnte zwar jeden Tag über Polizeieinsätze in Kinos und auf Fähren lesen, aber ihm kam das alles vor wie ein Schauspiel. Und einige meiner Brüder staunten auch darüber, wie halbherzig sie inzwischen beschattet wurden. Wenn die Polizei sich wirklich energisch darauf konzentriert hätte, Helle zu überwachen, dann hätten sie mich erwischt. Aber das wollten sie offenbar nicht. Wie mein Freund es ausdrückte: Wenn irgendein Streifenpolizist über mich gestolpert wäre, dann wäre er in den Norden Grönlands versetzt worden.
Am nächsten Tag, als ich dann wieder allein war, fing ich an zu schreiben. Zuerst vorsichtig und ein wenig zögerlich. Es ging schließlich um mein Leben, und ich mußte mich zuerst an den Gedanken gewöhnen, daß eine Menge fremder Menschen mich kennenlernen würden. In der ersten Zeit machte ich nur Notizen. Ich schrieb alles auf, woran ich mich bei den verschiedenen Situationen erinnern konnte. Es war eine ganz neue Erfahrung, der letzte Rest Langeweile verdunstete wie Tau unter der Sonne. Und ich fuhr zum Supermarkt, um neues Papier zu kaufen.
Vier Brüder wurden festgenommen und der Mithilfe zum Mord an Makrele bezichtigt. Ich wurde ebenfalls unter Anklage gestellt und in Abwesenheit zu Untersuchungshaft verurteilt. Die Festnahmen fanden im Flughafen von Kopenhagen statt, als Jens und Middelboe aus den USA zurückkehrten. Obwohl sie jedes Jahr in die USA fuhren, wurde diese Reise von Polizei und Presse gegen sie verwandt. Es hieß ganz offen, daß sie sich dort versteckt gehalten hätten. Die Festnahmen gehörten zur Geiseltaktik der Mordkommission, das stand für uns fest. Aber was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußten, war, daß sie einen Teil einer größeren Komplott-Theorie ausmachten, die die Polizei mit Hilfe ihrer Wanzen gerade zusammenschusterte. Auch Carlo und Gaukler wurden in den Knast gesteckt.
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