Frederick Douglass
Mein Leben als amerikanischer Sklave
Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser
Mit einem Nachwort von Hannah Spahn
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung:Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Frederick Douglass. Mit freundlicher Genehmigung der Onondaga Historical Association
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961975-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011372-1
www.reclam.de
Frederick Douglass
Mein Leben als amerikanischer Sklave
Erstes Kapitel1
Ich bin in Tuckahoe nahe Hillsborough in Maryland geboren, etwa zwölf Meilen von Easton in Talbot County entfernt. Von meinem genauen Alter habe ich keine Kenntnis, da ich nie einen zuverlässigen Eintrag darüber zu Gesicht bekommen habe.2 Die weitaus meisten Sklaven wissen über ihr Alter so wenig wie Pferde über das ihre, und die meisten Herren, die ich kenne, haben den Wunsch, ihre Sklaven in dieser Unwissenheit zu halten. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einem Sklaven begegnet zu sein, der den Tag seiner Geburt zu nennen vermochte. Selten können sie ihn näher bestimmen als mit einem Verweis auf Pflanz-, Ernte- oder Kirschenzeit, Frühjahr oder Herbst. Schon in der Kindheit war der Mangel an Informationen über mein Geburtsdatum eine Quelle des Unglücks für mich. Die weißen Kinder konnten ihr Alter angeben. Ich verstand nicht, weshalb mir dieses Privileg vorenthalten wurde. Bei meinem Herrn durfte ich mich nicht danach erkundigen. Alle Nachforschungen dieser Art vonseiten eines Sklaven hielt er für ungehörig und unverschämt, er nahm sie als Beweis für einen unruhigen Geist. Nach meiner besten Schätzung bin ich heute siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Darauf komme ich, weil ich irgendwann im Jahre 1835 meinen Herrn sagen hörte, ich sei um die siebzehn.
Meine Mutter hieß Harriet Bailey. Sie war die Tochter von Isaac und Betsey Bailey, beides Farbige, und sie waren recht dunkelhäutig. Meine Mutter hatte eine noch dunklere Hautfarbe als meine Großmutter oder mein Großvater.3
Mein Vater war ein Weißer. Von allen, die ich je über meine Herkunft sprechen hörte, wurde er als Weißer beschrieben. Hinter vorgehaltener Hand wurde sogar darüber getuschelt, dass mein Herr mein Vater sei; aber ich weiß nicht, ob diese Aussage zutrifft; die Mittel, es zu erfahren, wurden mir verwehrt. Meine Mutter und ich wurden getrennt, als ich noch ein Säugling war – noch bevor ich wusste, dass sie meine Mutter war. In dem Teil von Maryland, aus dem ich weggelaufen bin, ist es ein üblicher Brauch, die Kinder bereits in sehr frühem Alter von ihren Müttern zu trennen. Häufig wird dem Kind, noch bevor es den zwölften Monat erreicht hat, die Mutter weggenommen und auf einer Farm in beträchtlicher Entfernung verdingt, und das Kind wird der Obhut einer alten Frau anvertraut, die zu betagt ist für die Feldarbeit. Zu welchem Zweck diese Trennung vorgenommen wird, weiß ich nicht, es sei denn, um das Kind daran zu hindern, Zuneigung zu seiner Mutter zu entwickeln, sowie die natürliche Zuneigung der Mutter zu ihrem Kind zu schwächen und zu zerstören. Denn das ist die unvermeidliche Folge.
Meiner Mutter bin ich, seit ich mich erinnern kann, nicht mehr als vier- oder fünfmal in meinem Leben begegnet; und jedes Mal war die Begegnung von sehr kurzer Dauer und erfolgte bei Nacht. Sie war bei einem Mr Stewart verdingt, der etwa zwölf Meilen von meinem Zuhause entfernt wohnte. Um mich zu sehen, machte sie sich, nachdem sie ihr Tagwerk verrichtet hatte, nachts auf den Weg und legte die ganze Strecke zu Fuß zurück. Sie war Feldarbeiterin, und wer bei Sonnenaufgang nicht wieder auf dem Feld ist, wird mit Auspeitschen bestraft, es sei denn, ein Sklave oder eine Sklavin hat eine anderslautende Sondererlaubnis seines oder ihres Herrn – eine Erlaubnis, die sie nur selten bekommen und die demjenigen, der sie erteilt, den stolzen Namen eines gütigen Herrn einbringt. Ich kann mich nicht daran erinnern, meine Mutter jemals bei Tageslicht gesehen zu haben. Sie war nur nachts bei mir. Dann legte sie sich zu mir und geleitete mich in den Schlaf, aber noch bevor ich erwachte, war sie längst wieder fort. Es fand sehr wenig Kommunikation zwischen uns statt. Schon bald nahm uns der Tod das wenige, was wir haben durften, als sie noch lebte, und machte ihrem Elend und Leid ein Ende. Sie starb, als ich etwa sieben Jahre alt war, auf einer der Farmen meines Herrn, in der Nähe von Lee’s Mill. Ich durfte nicht bei ihr sein: weder als sie erkrankte noch als sie starb, und auch nicht, als sie beerdigt wurde. Sie war lange tot, bevor ich irgendetwas davon mitbekam. Da ich ihre wohltuende Gegenwart, ihre zärtliche und wachsame Fürsorge nie in nennenswertem Umfang genossen hatte, empfing ich die Kunde von ihrem Tod mit nahezu denselben Gefühlen, die ich beim Tod einer Fremden empfunden hätte.
So plötzlich abberufen, ließ sie mich ohne die geringste Ahnung zurück, wer mein Vater war. Jenes Getuschel, dass mein Herr mein Vater sei, mag wahr sein oder nicht; doch ob wahr oder falsch, für meine Zwecke ist es von geringer Bedeutung, solange die Tatsache, dass Sklavenhalter verfügen können, und das Gesetz sie darin bestätigt, dass die Kinder von Sklavinnen in jedem Fall in die Stellung ihrer Mütter nachrücken müssen, in all ihrer himmelschreienden Schändlichkeit bestehen bleibt; und dies geschieht nur zu offensichtlich, um ihre eigenen Begierden zu stillen und die Befriedigung ihrer bösen Begierden ebenso einträglich wie vergnüglich zu gestalten; denn durch dieses ausgeklügelte Arrangement unterhält der Sklavenhalter in nicht wenigen Fällen seinen Sklaven gegenüber die doppelte Beziehung von Master und Vater.
Ich weiß von solchen Fällen; und es ist bemerkenswert, dass solche Sklaven stets größere Unbill erleiden und mehr zu ertragen haben als andere. Zunächst einmal sind sie ihrer Herrin ein ständiges Ärgernis. Diese ist stets geneigt, an ihnen herumzukritteln; selten können sie es ihr recht machen; nie ist sie zufriedener, als wenn sie sie unter der Peitsche sieht, zumal wenn sie ihren Mann verdächtigt, seinen Mulattenkindern Vergünstigungen zu erweisen, die er seinen schwarzen Sklaven vorenthält. Aus Rücksicht auf die Gefühle seiner weißen Frau ist der Master oft gezwungen, diese Sorte Sklaven zu verkaufen; und so grausam es erscheinen mag, dass ein Mann seine eigenen Kinder an Menschenfleischhändler verkauft, ist es doch häufig ein Gebot der Menschlichkeit, dass er es tut. Denn tut er es nicht, so muss er sie nicht nur selbst auspeitschen, sondern dabeistehen und zuschauen, wie sein weißer Sohn den eigenen Bruder, dessen Hautfarbe nur um wenige Nuancen dunkler ist als seine eigene, fesselt und dessen nackten Rücken mit der blutigen Peitsche bearbeitet; und wenn er ein Wort der Missbilligung lispelt, wird es auf seine väterliche Voreingenommenheit zurückgeführt und verschlimmert die Sache nur noch, sowohl für ihn selbst als auch für den Sklaven, den er doch schützen und verteidigen wollte.
Jedes Jahr bringt eine Vielzahl von Sklaven dieser Kategorie hervor. Zweifellos geschah es im Wissen um diese Tatsache, dass ein großer Staatsmann des Südens den Untergang der Sklaverei aufgrund des unvermeidlichen Bevölkerungsgesetzes vorhersagte. Ob diese Prophezeiung jemals in Erfüllung geht oder nicht, es liegt auf der Hand, dass im Süden eine ganz anders aussehende Gruppe von Menschen heranwächst und in Sklaverei gehalten wird als die, die ursprünglich aus Afrika in dieses Land verbracht wurde; und wenn ihre Zunahme auch sonst nichts Gutes bewirkt, so wird sie doch die Kraft des Arguments beseitigen, dass Gott den Ham verflucht habe4 und die amerikanische Sklaverei daher berechtigt sei. Wenn laut der Heiligen Schrift nur die direkten Nachkommen Hams versklavt werden sollen, so ist gewiss, dass die Sklaverei des Südens in Bälde der Heiligen Schrift zuwiderlaufen muss; denn alljährlich werden Tausende in die Welt gesetzt, die wie ich ihre Existenz weißen Vätern verdanken, und meist sind ihre Väter ihre eigenen Herren.
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